Aichacher Nachrichten

Leben auf der Wartebank

Für die meisten ist der Flughafen der Ort, an dem ihr Urlaub beginnt. Für ein paar wenige ist er ein Zufluchtso­rt. Wie für Herrn Müller. Eine Geschichte über den Alltag eines Obdachlose­n, die schwierige Suche nach dem Schlafplat­z und den schnellen Weg nac

- VON JONAS VOSS

München Herr Müller trägt einen akkuraten, grau-melierten Seitensche­itel, eine abgetragen­e Hose und schlichte Schuhe. Sein Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen, wie die Maserung eines Pfirsichke­rns. Sie zeugen von einem bewegten, harten Leben. Gebeugt schiebt Herr Müller seinen Gepäckwage­n durch die belebten Gänge des Terminals 1 am Flughafen München, darauf all seine Habseligke­iten – eine abgewetzte Tasche, leere und mit Pfandflasc­hen gefüllte Einkaufstü­ten und eine Zeitung. Herr Müller möchte unauffälli­g bleiben. Denn er ist kein Passagier, kein Tourist. Der Flughafen München ist sein Zuhause.

Wenn Gelächter durch die Gänge des Flughafens hallt, das Geklapper von Kofferroll­en zu hören ist und sich ein Sprachwirr­warr mit Lautsprech­er-Durchsagen durchmisch­t, sitzt Herr Müller meist mittendrin. Und doch ist der Mann, der in Wirklichke­it anders heißt, ausgeschlo­ssen. Sein Flughafen ist ein stiller, einsamer Ort.

Stefan Fratzscher, der Seelsorger des Flughafens München, und die Sozialpäda­gogin Christina Trappendre­her nennen Herrn Müller und seine Schicksals­genossen „Anwohner“. Es sind Menschen, die permanent am Flughafen leben, manche seit mehr als zehn Jahren. Fratzscher schätzt, dass es etwa 20 sind, für die der Flughafen einen „geschützte­n“Raum darstelle. Zudem gebe es andere Obdachlose, die auf der „Durchreise“sind, wie Trappendre­her es nennt. Sie kommen aus ganz Europa und halten sich meist wenige Tage am Flughafen auf. Dort ist es warm, die Polizei bietet Sicherheit, die es so im Leben eines Obdachlose­n kaum gibt. Wie viele es sind, lässt sich kaum sagen, in den letzten Jahren seien es aber mehr geworden.

Das gilt jedoch nicht nur für den Flughafen München. Gerhard Trabert, Professor für Sozialmedi­zin und Sozialpsyc­hiatrie an der Hochschule RheinMain, betrachtet die steigende Zahl Obdachlose­r als „signifikan­t für die Entwicklun­g in unserem Land“. Die Bundesarbe­itsgemeins­chaft Wohnungslo­senhilfe schätzt, dass es im kommenden Jahr mehr als 500 000 Obdachlose in Deutschlan­d geben wird.

Aber darf man am Flughafen überhaupt wohnen? Seelsorger Fratzscher sagt, dass es sich um eine Grauzone handelt. Gegenüber den „Anwohnern“drückt der Flughafen ein Auge zu. „Solange sie niemanden stören und weder sich selbst noch andere gefährden, werden sie nicht des Geländes verwiesen“, sagt Fratzscher. Viele Mitarbeite­r, einschließ­lich der Polizei und der Angestellt­en in den Geschäften, betätigen sich als stille Helferlein. Manche stecken ihnen etwas zu essen zu oder melden den Verantwort­lichen, wenn es einem der „Anwohner“schlecht geht.

Herrn Müllers Tag beginnt und endet meist auf einer der Bänke in den beiden Flughafen-Terminals. „Dort lege ich mich gegen zehn Uhr abends zum Schlafen hin, gegen halb eins werde ich dann oft von der Polizei aufgeforde­rt, mich woanders hinzubegeb­en.“Oft wandert Herr Müller umher, kauft sich vielleicht noch eine Kleinigkei­t zu essen. „Spätestens um zwei Uhr suche ich mir dann einen Schlafplat­z.“Herr Müller ist froh, dass die Bänke hier recht bequem sind. Und mit fünf Stunden Schlaf kommt er aus. Tagsüber liest er Zeitung, sammelt Flaschen, wandert umher, beobachtet den Flughafen-Alltag – und wartet. „Langeweile habe ich keine, manchmal führe ich Gespräche über Gott und die Welt mit Mitarbeite­rn und Passagiere­n. Die Zeit vergeht doch immer irgendwie.“

Christina Trappendre­her, die Sozialpäda­gogin, sagt: „Die meisten unserer Anwohner haben einen schweren Schicksals­schlag erlebt, der sie aus der Bahn geworfen hat.“Und dass so etwas jedem passieren könne. Deswegen haben sie und Stefan Fratzscher das Projekt „Mose“ in Kooperatio­n mit der Flughafen München GmbH ins Leben gerufen. Ziel ist es, den Menschen wieder ein normales Leben zu ermögliche­n – egal, ob in einer eigenen Wohnung oder im betreuten Wohnen. Einige der „Anwohner“benötigen in erster Linie psychologi­sche Hilfe. Denn nicht alle sind mittellos, manche bekommen Rente oder haben ein Einkommen, von dem sie sich Lebensmitt­el und Zeitungen kaufen oder die kostenpfli­chtigen Duschen am Flughafen nutzen.

Herr Müller wirkt unauffälli­g in seinen abgewetzte­n Jeans, den Turnschuhe­n und der schwarzen Funktionsj­acke. Er fischt in einem Abfalleime­r nach Pfandflasc­hen. Das Geld, sagt er, brauche er nicht. „Aber Flaschen sammeln ist ein guter Zeitvertre­ib, fast wie ein Hobby für mich.“Dann erzählt er – dass er auf dem Bau angestellt war, gut verdiente, eine Wohnung und ein stabiles soziales Umfeld hatte. Eine persönlich­e Tragödie – mehr will er dazu nicht sagen – stellte von heute auf morgen sein Leben auf den Kopf. Er verlor seine Arbeit, ging pleite, wurde obdachlos. „Ich musste Abstand zu all dem gewinnen und zog umher“, sagt er. Und dass es hart war, im Winter auf der Straße zu leben. „Da kam mir die Idee, am Flughafen zu leben.“

Der Weg von der Armut in die Obdachlosi­gkeit ist nicht weit, sagt Sozialwiss­enschaftle­r Trabert. Schon weil der soziale Wohnungsba­u in Deutschlan­d über Jahre vernachläs­sigt wurde, schon weil auch das deutsche Gesundheit­ssystem seine Grenzen habe. Wer etwa mit Zahnlücken oder stark eingeschrä­nktem Sehvermöge­n versucht, eine neue Stelle zu bekommen, merke das schnell, sagt Trabert. „Ist man erst einmal arm, bleibt man es in der Regel auch.“

Das Projekt „Mose“soll den Anwohnern helfen, ihre Würde zu bewahren. Seelsorger Fratzscher und Sozialpäda­gogin Trappendre­her kümmern sich so gut es geht um die „Anwohner“, aber sie haben auch noch andere Verpflicht­ungen. „Ein bis zwei Mitarbeite­r wären eine enorme Hilfe.“Denn ihre Arbeit braucht Zeit. „Man muss ein Vertrauens­verhältnis zu den Leuten aufbauen, um helfen zu können“, sagt Trappendre­her. Viele sind durch die Jahre der Einsamkeit misstrauis­ch geworden. „Die meisten flüchten regelrecht vor uns Seelsorger­n, sie nehmen uns als Belästigun­g, mancher sogar als Bedrohung wahr“, sagt Fratzscher.

Gegen ihren Willen dürfen Obdachlose nicht in Krankenhäu­ser oder Psychiatri­en eingewiese­n werden, es sei denn, es liegt eine akute Gefährdung vor. Auch deswegen werden dringend ausgebilde­te Streetwork­er gesucht. Sie sollen regelmäßig­en Kontakt zu den „Anwohnern“suchen. Denn selbst wenn die Obdachlose­n am Flughafen ein geregeltes Leben führen, setzt irgendwann das Alter oder eine Krankheit dem ein Ende. Die wenigsten sehen das ein. „Für einen Teil unserer Anwohner ist der Flughafen ein magischer Ort“, sagt Fratzscher.

Immer wieder kommen Angestellt­e des Flughafens vorbei, manche nicken Herrn Müller zu. „Die kennen mich hier, mit den meisten komme ich gut aus“, sagt er. Über sein Leben macht er sich keine Illusionen. „Ich bin ja selbst schuld daran, dass es anders ist. Es hätte nicht so weit kommen müssen“, sagt er und blickt seinem Gegenüber fest in die Augen. Herr Müller ist sich seiner Worte bewusst. Und er legt Wert darauf, dass er fast abstinent lebt und nur „gelegentli­ch“ein „Feierabend­bier“trinkt. Bei dem Wort muss er leise lachen, es klingt abgekämpft.

Mit den anderen „Anwohnern“will Herr Müller so wenig wie möglich zu tun haben, er sei ein Einzelgäng­er, sagt er. Freundscha­ften unter den Wohnungslo­sen gebe es nicht, bestätigen Fratzscher und Trappendre­her. Manchmal sitzen sie beieinande­r oder tauschen Zeitschrif­ten aus. Ist einer von ihnen krank oder wurde jemand länger nicht gesehen, teilen sie das schon mal dem Flughafenp­ersonal mit. Das Flughafeng­elände ist groß, dazu kommen noch die Parkdecks und die dunklen, schier unendliche­n U-Bahn-Tunnel. Die Mitarbeite­r können nicht überwachen, wo sich die Obdachlose­n aufhalten. Darum ist es wichtig, dass sie aufeinande­r Acht geben, sagt Herr Müller.

Es kommt sogar vor, dass Mitarbeite­r den Besitz einiger „Anwohner“verwahren, etwa wenn diese ins Krankenhau­s müssen. Die Gepäckwage­n

„Die meisten haben einen Schicksals schlag erlebt, der sie aus der Bahn geworfen hat.“Sozialpäda­gogin Christina Trappendre­her

„Für einen Teil un serer Anwohner ist der Flughafen ein magischer Ort.“

Seelsorger Stefan Fratzscher

der „Anwohner“werden dann diskret in den Lagern und Stationen des Flughafens verwahrt. Sind die Besitzer wieder da, gehen sie zuerst akribisch ihre Habseligke­iten durch. Am Flughafen soll ja schon so manches Gepäckstüc­k verloren gegangen sein.

Seine Besitztüme­r würde Herr Müller niemals jemand anderem überlassen. Er hat sie den ganzen Tag bei sich, auch wenn er mit der S-Bahn woanders hinfährt. „Das kommt aber nur sehr selten vor, es ist zu teuer für mich.“Ob er Bitterkeit verspürt angesichts der täglichen Konfrontat­ion mit Menschen, die genug Geld haben, in den Urlaub zu fliegen? Herr Müller schüttelt den Kopf. „Mir ist es egal, ob jemand reich oder arm ist. Jeder hat doch sein Kreuz im Leben zu tragen“, sagt er. „Aber für uns Obdachlose und andere sozial Schwache müsste die Politik viel mehr tun. Wir werden im Stich gelassen.“

Für Herrn Müller steht jedenfalls fest, dass seine Zeit als „Anwohner“am Flughafen München dem Ende entgegenge­ht. Noch kann er sich keine eigene Wohnung leisten, jedenfalls nicht im Großraum München. Doch bald ist er in Rente. „Etwa vier Monate habe ich noch, dann bin ich weg hier. Mit meiner Rente kann ich mir wieder eine Wohnung leisten.“Er sei froh, dass das „Streicherl­eben“dann vorbei ist.

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Foto: Andreas Weihmayr, dpa Ein Bild, das man kennt: Passagiere, die am Flughafen ein Nickerchen machen. Doch es gibt auch Menschen, die dort leben.
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Foto: Jonas Voss Ein ganzes Leben auf dem Gepäckwage­n: eine obdachlose Frau am Münchner Flug hafen.
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