Von der Widerständigkeit der Kultur
In Zeiten, in denen gerne mal von „Leitkultur“schwadroniert wird, kommt ein Buch, das überhaupt erst einmal zu erklären versucht, was Kultur ist, gerade recht, sollte man meinen. Und in der Tat greift Terry Eagleton darin weit aus, man könnte aber auch sagen: Er mäandert durch die Geistesgeschichte. Von Platon bis zu seinen Hausheiligen Burke, Herder, Marx und Wilde lässt der Literaturwissenschaftler kaum jemanden aus, der zum Thema nicht irgendetwas beizutragen hätte, und das alles liest sich – wie stets bei dem ebenso vielseitigen wie typisch britisch-ironischen Autor – mit Gewinn und Genuss. Alleine, eine Theorie der Kultur liefert Eagleton nicht, auch wenn er sich müht, etwa den Unterschied zwischen „Kultur“und „Zivilisation“herauszuarbeiten. Interessanter da schon der Unterschied zwischen einer frühen Arbeit zum Thema („Was ist Kultur?“, 2001) und dem aktuellen Buch, in das ein bisschen mehr Skepsis ein- und dem wiederaufkommenden Nationalismus Rechnung gezogen scheint. Dass er diesem mit seiner kulturellen Identitätspolitik ablehnend gegenübersteht, verwundert nicht, einem blinden Multikulturalismus redet er aber auch nicht das Wort. Und so changiert Eagletons „kulturelle Rückbesinnung“als Immunisierung gegen die Anfechtungen der Zeit eher so als dritter Weg irgendwo dazwischen. Alleine die Schwierigkeit, das zu fassen, was Kultur ausmacht, zeigt aber auch, wie widerständig sie sein kann. Christian Imminger Wolfgang Kraushaar: Die blinden Flecken der RAF Klett Cotta, 423 Seiten, 25 Euro
IEndlich ein Dichter: Jacques Prévert, hier zu Hause in Paris 1967, poetischer Realist. Gedichte wie „Les feuilles mortes“wurden Jazzstandards, Drehbücher wie „Kinder des Olymp“prominent verfilmt. Terry Eagleton: Kultur m 40. Jahr nach dem Deutschen Herbst ging nun es viel darüber, was geschehen ist: 1977, bereits zuvor die Morde an Generalbundesanwalt Buback, im April, und ab Dresdner-Bank-Chef Ponto, im Juli, die Eskalation dann ab September, Verschleppung und Tötung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer, die Entführung der „Landshut“, die der Todesnacht von Stammheim, in der die inhaftierten Terroristen Baader, Ensslin und Raspe starben.
Wenig davon ist aufgeklärt, wie von so vielen Untaten der RAF. Weil das Schweigekartell der Täter und Mitwisser noch intakt ist, wie sich zuletzt beim Prozess 2010 gegen Verena Becker wegen Verstrickung in den Buback-Mord zeigte. Aber doch nicht nur deswegen. Denn wer nicht nur wissen will, was passiert ist, sondern auch verstehen will, wie es zu all dem kommen konnte, stößt noch auf viele weitere blinde Flecken jener dunklen Zeit der jüngeren deutschen Geschichte.
Man stelle sich nur vor: Martin Schulz, wie er in Rom oder dann halt zumindest vor dem Rathaus in Würselen inmitten von viel geistlicher und weltlicher Prominenz und Popanz zum Kanzler gekürt wird… Kann sich das jemand überhaupt vorstellen? Nein, natürlich nicht. Und das hat nur zum Teil mit einem völlig vergeigten Wahlkampf zu tun, zu einem weitaus größeren aber mit der recht jungen, traditionsarmen Demokratie in Deutschland, die jedweden Ritualen der Macht auch aufgrund dunkler historischer Erfahrungen nachvollziehbarerweise skeptisch gegenübersteht.
Anderswo sieht das anders aus, und so beginnt Rainer Hank sein „Lob der Macht“mit einer nur auf den ersten Blick verblüffenden Parallelmontage: Zum einen der Kaiserkrönung Karls IV. in Rom, zum anderen der Inauguration Donald Trumps am 20. Januar diesen Jahres. Was der Autor damit sagen will: Seht her, so viel hat sich in all den Jahrhunderten nicht verändert. Doch das Beispiel Trump ist wohlfeil, denn auch die Feierlichkeiten zur Amtseinführung eines Barack Obama waren von nicht weniger gravitätischem Zeremoniell. Der Unterschied zwischen aktuellem Amtsinhaber und dessen Vorgänger liegt eher in einem öffentlich zur Schau gestellten Willen zur Macht, und hier würde es spannend.
Doch Hank geht es zunächst um etwas anderes: Zu zeigen, dass Macht überhaupt stattfindet, allgegenwärtig ist, und das schon immer, und darauf verwendet der Autor viele Beispiele (vornehmlich aus der Wirtschaft) und Seiten, denn Macht ist in seinen Augen so etwas wie die verdrängte Seite unserer Existenz: „Wir verachten die Macht und müssen doch zugeben, dass wir in Wahrheit
Diese zu zeigen, zu umreißen und so weit wie möglich auszuleuchten, ist das Verdienst des ohnehin besten Erforschers der RAF-Geschichte, des Hamburger Politikwissenschaftlers Wolfgang Kraushaar. Sein ungeheueres Fachwissen, gepaart mit der großen Klarheit, einerseits amtliches Versagen aufzuzeigen, aber andererseits Mörder auch Mörder zu nennen, nichts zu verklären also (wie es einst im Umfeld des umstrittenen Stammheim-Besuchs selbst der Star-Philosoph Jean-Paul Sartre tat und auch letzthin immer mal wieder vorkam, etwa durch eine politische Ikonisierung Baaders oder eine künstlerische Erhöhung Ensslins und Ulrike Meinhofs durch die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek) – das macht auch wieder die Qualität seines neuen Buches aus: „Die dunklen Flecken der RAF“.
Darin lesen sich zum quasi erweiterten Schweigekartell dann auch frappierende Sätze wie dieser: „Geheimdienste haben ja zunächst einmal die Machtmenschen bewundern, ihrem Charme und ihrem Charisma erliegen und ganz im Geheimen vielleicht selbst gerne einer wären.“Macht ist also anrüchig, zumindest eine ambivalente Sache, und geht uns alle an, ja, Hank geht sogar so weit, mit dem Verhaltensforscher Frans de Waal von einer anthropologischen Konstante zu sprechen, also etwas, das uns allen von Höhlenmenschen-Zeiten an eingeschrieben und deswegen überall anzutreffen ist. Im Kindergarten, in Beziehungen, in Wirtschaft und Politik – überall geht es um Macht (oder finden sich zumindest Machtverhältnisse), und Macht ist für den Wirtschaftsjournalisten deswegen auch „die alles bewegende Triebfeder einer Fortschrittsgeschichte“, der „Wille zur Macht verantwortlich für die Wachstumsdynamik einer Gesellschaft“. Ist in Wahrheit also Macht der Anfang von allem?
Was gewiss zutrifft und nicht ganz unpraktisch ist: Macht kann soziale, also die Beziehungen von mindestens zwei Individuen, strukturieren, ist genau aus diesem Grund aber auch immer verliehen, in halbwegs idealen menschlichen Gefügen, Gesellschaften und Geschäftsfeldern Verhandlungssache oder eine des Wettbewerbs. Macht hat potenziell also jeder, und Hank, studierter Literaturwissenschaftler, Philosoph und Theologe, führt denn auch Hegel an und dessen berühmte Herr-Knecht-Dialektik, die gegenseitige eine Gemeinsamkeit mit terroristischen Organisationen: Sie versuchen im oder aus dem Verborgenen heraus zu operieren. Und diese Einstellung gilt zumeist auch für die Zeit danach.“Aber tatsächlich war es mit Peter Urban ja ein Undercover-Agent des damaligen Landesamtes für Verfassungsschutz in West-Berlin, der diejenigen, die sich in der linken Protestbewegung der 68er interessiert zeigten, mit Waffen und Sprengstoff versorgte. Und als dieser Peter Urban als Zeuge dann vor Gericht aussagen sollte, da war verschwunden.
Einer der Hauptakteure bei der Bildung gewaltbereiter Zirkel, beim Übergang von symbolischen Farbbomben über eine Kaufhausbrandstiftung zum Mord, spielte Horst Mahler. Wie Kraushaar dessen „Karriere“vom DDR-Parteigänger zum Apo-Anwalt zum Duellanten um die RAF-Führerschaft mit Andreas Baader beim Ausbildungscamp in Jordanien bis zum holocaustleugnenden Rechtsextremisten nachzeichnet, als der er seit kurzem wieder in deutscher Haft sitzt, ist erhellend. Nicht weniger sind es Passagen wie jene, in denen der Autor zeigt, wie gerade die sozialistische Gleichheit fordernden Terroristen zu jede Menschenwürde verachtenden Pragmatikern wurden, weil ihnen das Leben eines Polizisten im Vergleich zu dem eines Politikers als wertlos erschien.
Bleibt Wolfgang Kraushaar in all dem angenehm analytisch, sachlich – bei einem wird er gleich zu Beginn dieses wieder guten Buches geradezu leidenschaftlich: Im Ärger darüber nämlich, dass es immer wieder Gleichsetzungen zwischen dem heutigen islamistischen mit dem damaligen Links-Terrorismus gibt. Dabei bestehe gerade im Begreifen der wesentlichen Unterschiede die Möglichkeit der Erkenntnis. Und die habe Deutschland auch 40 Jahre nach jenem dunklen Herbst noch nötig. Wolfgang Schütz