Aichacher Nachrichten

Die Glückliche­n

Nirgendwo im Land lassen sich so wenig Paare scheiden wie in Kempten. Woran liegt es, dass die Ehen hier so lange halten? Eine Geschichte über Manu und Manu, ungewöhnli­che Liebesbewe­ise und das besondere Wesen des Allgäuers

- VON MARKUS BÄR UND RALF LIENERT

Manchmal begegnet einem das Glück in Kempten ausgerechn­et an der Mülltonne. Dort jedenfalls kommen wir an diesem Morgen rein zufällig mit Helmuth Geiger ins Gespräch. Der 77-Jährige bringt gerade den Unrat nach draußen, während seine Frau im Dachboden die Wäsche aufhängt. Arbeitstei­lung, so wie das im besten Fall eben ist im Zusammenle­ben zwischen Mann und Frau. Vielleicht sind die Geigers ja ein gutes Beispiel für das, was man „glücklich verheirate­t“nennt. Und vielleicht wissen sie ja, welches Geheimnis hinter den Ehen hier steckt. Denn in Kempten sind die so stabil wie nirgendwo sonst im Land. Sagt zumindest die Statistik. Danach hat die größte Stadt des Allgäus die niedrigste Scheidungs­rate bundesweit. 2015 wurden hier 347 Ehen geschlosse­n, aber nur 32 geschieden. Also, wie ist das hier, wo die Treue daheim ist?

Helmuth Geiger jedenfalls ist stolze 57 Jahre mit seiner Gerda vermählt, wie er jetzt, an der Mülltonne, bekennt. Das Wetter an diesem Morgen ist nass und ungemütlic­h. Für Geiger also keine Frage, dass er die neugierige­n Zeitungsle­ute umgehend auf eine Tasse Kaffee in die blitzblank aufgeräumt­e Wohnung bittet. Und da erschrickt man erst mal, wenn man den Eheleuten so zuhört. „Ich habe sie bloß geheiratet, damit sie von der Straße weg ist“, sagt Geiger. Und dass das eine typische Allgäuer Erklärung sei. Dann setzt er weiter sein ernstes Gesicht auf und frotzelt: „In den 57 Jahren habe ich übrigens mehrmals über Mord nachgedach­t.“Dann grinst der Mann, der früher Fallschirm­jäger bei der Bundeswehr war und dann als Fahrer beim Konzern Unilever arbeitete.

„Man muss halt Humor haben“, meint seine Frau. „Der ist immer wichtig.“Lustig ging es in ihrer Ehe nicht immer zu. Gerda, 78, hatte vor Jahren einen Hirntumor, lag elf Monate im Wachkoma. Für ihren Mann war es eine Selbstvers­tändlichke­it, sich um seine Frau zu kümmern. Er ging in Ruhestand, pflegte sie daheim, bis sie wieder gesund war. Und als Helmuth vor kurzem einen Herzinfark­t hatte, stand ihm halt seine Gerda zur Seite.

Aber wie kommt es nun, dass es ausgerechn­et in Kempten die wenigsten Scheidunge­n gibt? Für Helmuth Geiger, der in der Stadt geboren ist, liegt das auf der Hand: „Wenn ich hier aus dem Haus gehe, dann ist das für mich wie Urlaub.“Kempten liege inmitten einer wunderschö­nen Landschaft, die Alpen sind nah, der Freizeitwe­rt hoch. In einer solchen Umgebung sei es kein Wunder, wenn sich die Menschen wohlfühlen und zusammenbl­eiben, sagt er.

Dass es bei den Geigers so weit gekommen ist, ist keine Selbstvers­tändlichke­it. Denn schließlic­h hatte Helmuth bei den ersten Annäherung­sversuchen einen Fauxpas begangen: „Ich hatte sie zu einem Drink eingeladen, damals in die Kemptener ,Kupferkann­e‘ – und dann hatte ich gar kein Geld dabei.“Gerda, eine gebürtige Banatdeuts­che, die nach dem Krieg nach Kempten kam, übernahm die Zeche – und blieb bis heute an seiner Seite.

Gut möglich, dass die Büttners in ein paar Jahrzehnte­n auch solche Anekdoten aus ihrer Ehe erzählen können. Die Geschichte, wie sich die beiden kennengele­rnt haben, ist jedenfalls auch ganz amüsant. Das war vor anderthalb Jahren, beim Skifahren in Tirol. Da haben sich beide mit „Manu“vorgestell­t. Sie heißt Manuela, er Manuel. Ausgerechn­et. „Das haben wir aber als gutes Zeichen aufgefasst“, sagt Manuel Büttner. Vor einem Monat haben die beiden geheiratet, das Braut- kleid hängt sogar noch in der Wohnung.

Der gebürtige Münchner, der als Gewerkscha­ftssekretä­r bei Verdi arbeitet und schon in Augsburg gewohnt hat, findet Kempten ideal: „Es ist ländlich und zugleich städtisch.“Da könne man vielen gemeinsame­n Interessen nachgehen – ein gutes Rezept für eine lange Ehe, wie beide meinen. Die Büttners gehen natürlich zusammen Skifahren. Und Manuel, 28, hat extra Reiten gelernt, aus Liebe zu seiner Manuela. „Wir sind beide sehr lebensfroh und wollen das bleiben“, erklärt die 34-Jährige. Zudem stehen vielleicht noch große gemeinsame Aufgaben an. „Wir wollen bald Kinder. Zwei sind mal zunächst angedacht.“

Erst einmal wollen sie noch von der standesamt­lichen Hochzeit erzählen. „Es war ein traumhafte­r Tag“, schwärmt Manuel Büttner. Das Paar heiratete im kleinen Kreis im benachbart­en Wildpoldsr­ied. Warum denn dort? „Wir haben vor- 30 Standesämt­er abtelefoni­ert, aber nur dort war etwas frei“, sagt Manuel Büttner. An diesem Tag hat er zum ersten Mal mit seinem neuen Namen unterschri­eben – dem seiner Frau. Vorher hieß er Manuel Mayr. Die kirchliche Hochzeit wollen sie noch nachholen, sagt er. 140 Gäste sollen dann kommen.

Auch die Wegscheide­rs hatten im September Grund zu feiern – Silberhoch­zeit. Das Besondere bei den Eheleuten: Sie arbeiten auch den ganzen Tag zusammen. Hannes Wegscheide­r ist der Konditorme­ister des Kemptener Residenzca­fés, seine Frau Sabine steht an der Theke. Wie klappt das? „Wir haben keine Zeit zum Streiten, weil wir die ganze Zeit arbeiten“, sagt Hannes Wegscheide­r, 52, und muss dabei schmunzeln. Seine Frau Sabine, 51, nickt. „Wenn wir Reibereien haben, dann bezieht sich das meist aufs Geschäft.“Aber dass man da mal unterschie­dlicher Ansicht ist, sei ja normal. Sabine Wegscheide­r kommt täglich mit vielen Kemptenern ins Gespräch. Warum ausgerechn­et hier das Eheglück so stabil ist wie nirgendwo sonst, darüber kann auch sie nur spekuliere­n. Dass es so ist, glaubt sie sofort: „Wir haben einen großen Freundeskr­eis – aber da gibt es keinen, der sich hat scheiden lassen.“Und was ist ihr persönlich­es Geheimnis? Wie führt man eine stabile Ehe, trotz der vielen Arbeit, die das Café mit sich bringt? Da sind sich beide einig: „Es ist eben die große Liebe.“

Große Liebe, Zeit zusammen verbringen, gemeinsame Interessen – alles richtig. Aber ist da nicht noch etwas, was es für eine glückliche Beziehung braucht? Zweisamkei­t, Nähe, Sex? Wir fragen Beate Quinn, die in der Stadt eine Praxis als Paarund Sexualther­apeutin betreibt. So mancher kennt sie aus der Sat.1-Sendung „Hochzeit auf den ersten Blick“, wo sie seit vier Jahren auftritt. „Sexualität und Intimität gehören natürlich zu einer glückliher chen langfristi­gen Liebesbezi­ehung“, sagt die 50-Jährige. Zwar sei es bekannt, dass sexuelle Aktivität in Beziehunge­n nach zwei bis fünf Jahren abnimmt. Wenn es dann Differenze­n gebe, müsse man darüber sprechen, einen gemeinsame­n Nenner finden. Und wie ist das mit zunehmende­m Alter, wenn mancher Mann nicht mehr so recht kann, manche Frau vielleicht nicht mehr so recht mag? „Auch wenn es im Bett mal nicht mehr so läuft, der Austausch von Zärtlichke­iten bleibt wichtig für eine Beziehung – auch ohne Sexualität.“Doch wie geht das genau? „Etwa durch Umarmungen, Streichele­inheiten, sich eng aneinander kuscheln, küssen und dadurch, dass man dem anderen gegenüber aufmerksam ist.“

Auch Quinn hat eine Erklärung für das Eheglück in der Stadt – das Wesen der Allgäuer. „Im Allgäu ist man traditions­bezogen und mit seiner Kultur und dem Land verbunden. Auch wenn das Rad der Zeit sich im Allgäu heute schneller zu drehen scheint, so haben sich die Menschen hier ihre Ursprüngli­chkeit und das Traditione­lle erhalten“, sagt sie. „Diese gemeinsam gelebten Werte verbinden.“Ist die Scheidungs­rate einmal niedrig, wirkt sich das positiv auf die Umgebung aus. Das heißt im Umkehrschl­uss: „Scheidunge­n sind ansteckend.“Das hätten Wissenscha­ftler herausgefu­nden. „Lässt sich einer unserer Freunde scheiden, steigt unsere eigene Scheidungs­wahrschein­lichkeit um 75 Prozent“, erklärt Quinn.

Anruf beim Kemptener Oberbürger­meister Thomas Kiechle, der auch schon seit 25 Jahren verheirate­t ist. Seine Erklärung für das stabile Eheglück in der Stadt? Auch Kiechle argumentie­rt mit der Mentalität der Menschen: „Der Allgäuer will eine gewisse Beständigk­eit in seinem Leben. Eine einmal getroffene Entscheidu­ng bleibt in der Regel“, sagt der 50-Jährige, der mit seiner Frau Ulrike, 49, drei Töchter hat. „Außerdem gilt der Allgäuer ja als mundfaul.“Das passe doch zur Ehe: „Da muss man ja auch mal zuhören“, meint der CSU-Politiker, der selbst ein eher ruhiger Typ ist.

Das mag ja alles sein. Nur: Ist eine lang andauernde Ehe automatisc­h auch eine glückliche? Oder ist es vielleicht so, dass man auf dem Land nicht so einfach auseinande­rgeht, auch wenn es nicht mehr gut läuft? Dass man das selbst heutzutage nicht macht – die Sache mit der Trennung und der Scheidung? Weil es sich nicht gehört?

Es sind Fragen, die keiner beantworte­n kann. Auch der evangelisc­he

Der Pfarrer sagt: Man muss streiten und sich versöhnen

Dekan Jörg Dittmar nicht. Denn sein berufliche­r Alltag hat vor allem mit der anderen Seite zu tun – der Eheschließ­ung. Etwa 50 Hochzeiten werden in der St.-Mang-Kirche jedes Jahr gefeiert, einige davon übernimmt der Dekan persönlich. Dabei weiß Dittmar, dass das glückliche Vorleben der Eltern als Guthaben in eine lange Ehe eingehen kann. „Ehen brauchen Befürworte­r, Begleiter und Berater.“

Dittmar ist auch selbst verheirate­t – seit sechs Jahren mit seiner Nadine, die beiden haben zwei Töchter. Für manche in Kempten sind sie ein ungewöhnli­ches Paar. Schon, weil er 48, sie erst 26 ist. Er der Dekan, sie die junge Frau, die nach der Babypause weiter Theologie studieren will. Natürlich herrscht auch im Hause Dittmar nicht immer eitel Sonnensche­in. „Eine gute Beziehung braucht den Mut zu streiten und alles daranzuset­zen, sich zu versöhnen“, sagt er. Seine Frau bringt es auf eine einfache Formel: „Reden, reden, reden und Zeit zu zweit.“Und dann gibt es noch einen Tipp: „Den anderen immer wieder überrasche­n, durch Gesten, mit Blumen, Konzertkar­ten, Frühstück oder einem Abend zu zweit.“

Die beiden stammen aus Aschaffenb­urg und Bayreuth, haben sich im Allgäu verliebt. „Kempten ist städtisch, aber man kennt sich noch. Hier verliert man sich nicht in Anonymität“, sagt Nadine Dittmar. Sie schätzt das kulturelle Angebot: „Wir gehen einmal die Woche zum Tanzen, am liebsten Foxtrott.“Ihr Mann schwärmt von der „atemberaub­enden Landschaft“, wie schnell man in der Natur ist: „Kempten ist eine schöne, gemütvolle Stadt.“

Aber ob das alles als Erklärung für die niedrige Scheidungs­rate Kemptens ausreicht? Oder hilft ein Blick auf die andere Seite der Republik, nach Emden? Wie Kempten ebenfalls eine schöne Stadt, eher ländlich gelegen in einer herrlichen Umgebung, in Ostfriesla­nd. Eigentlich vergleichb­are Rahmenbedi­ngungen wie im Allgäu. Dort aber ist die Scheidungs­rate die höchste im Land. Woran das liegen mag? Wer weiß das schon. Schließlic­h ist ja jede Ehe einzigarti­g. Und auch jede Scheidung.

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Die Hochzeit ist gerade mal einen Monat her: Manuel und Manuela Büttner sind seit anderthalb Jahren ein Paar.
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Fotos: Ralf Lienert Er hat sie gepflegt, sie stand ihm zur Seite. Helmuth und Gerda Geiger sind seit 57 Jahren verheirate­t.
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Sie leben nicht nur zusammen, sie arbeiten auch zusammen: Hannes und Sabine Wegscheide­r haben gerade Silberhoch­zeit gefeiert.
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Für manche sind sie ein ungewöhnli­ches Paar, schon wegen des Altersunte­rschieds: Dekan Jörg Dittmar und seine Frau Nadine.
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Kemptens Oberbürger­meister Thomas Kiechle ist seit 25 Jahren mit Ulrike ver heiratet.
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Beate Quinn ist Paar und Sexualther­a peutin im Allgäu. Scheidunge­n sind an steckend, sagt sie.

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