Aichacher Nachrichten

Frostige Zeiten für Jamaika

Bevor sich CDU, CSU, FDP und Grüne über die Reizthemen Klimaschut­z und Flüchtling­spolitik unterhalte­n, müssen sie in Gruppenthe­rapie. Kohlekraft­werke, Familienna­chzug, Obergrenze: Es geht ans Eingemacht­e

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Jamaika, das klingt nach Sonne, Meer und Wärme. Doch vor dem ehrwürdige­n Altbau beim Berliner Reichstag ist es bitterkalt an diesem Nachmittag. Von der Spree her bläst ein schneidend­er Wind, der den Postboten auf seinem Fahrrad ebenso frösteln lässt wie die wartenden Kameraleut­e und Fotografen. Frostig ist auch das Klima unter den Vertretern von CDU, CSU, FDP und Grünen, die im Kaisersaal der Parlamenta­rischen Gesellscha­ft dem großen Ziel einer gemeinsame­n Regierung ein kleines Stück näherkomme­n wollen. Die Harmonie der ersten Sondierung­sgespräche ist völlig verflogen. Ausgerechn­et vor dem Treffen, bei dem es um absolute Reizthemen geht.

Klimapolit­ik und Migration – in diesen Bereichen liegen die Meinungen der Verhandlun­gspartner so weit auseinande­r, dass hier die wohl größte Gefahr eines Scheiterns auf dem Weg zur Jamaika-Koalition droht. Die Gespräche drehen sich um heftigst umstritten­e Fragen: Ob und wann das Aus für Kohlekraft­werke und Autos mit Verbrennun­gsmotor kommen soll. Ob künftig eine Art von Flüchtling­sobergrenz­e gilt. Und ob die Familien von Flüchtling­en mit eingeschrä­nktem Schutzstat­us nachkommen dürfen.

Doch bevor die Diskussion um die Rettung des Weltklimas beginnen kann, müssen die Jamaika-Parteien erst einmal das Klima in ihren Sondierung­sgespräche­n retten. Die Atmosphäre hat sich massiv verschlech­tert, seit ein Streit darüber entbrannt ist, welchen Stellenwer­t die bisherigen Verhandlun­gsergebnis­se denn überhaupt haben. So hatte die FDP-Seite in Sachen Finanzpoli­tik verkündet, die Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­s und der Verzicht auf neue Schulden sei be- Sache. Die Grünen wiesen diesen Zwischenst­and als falsch zurück. Es folgten gegenseiti­ge Angriffe. FDP-Vize Wolfgang Kubicki sprach von „fehlendem Grundvertr­auen“, Grünen-Unterhändl­er Cem Özdemir mahnt eine „Diskussion über Umgangsfor­men“an.

Vor diesem Hintergrun­d begann der Verhandlun­gstag mit einer Gruppenthe­rapie-Sitzung, geleitet von Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Die, so heißt es aus Teilnehmer­kreisen, sprach ein Machtwort, gab die Maßgabe aus, dass zunächst einmal noch gar nichts fest vereinbart sei. Die Einigung auf konkrete Maßnahmen stehe erst am Ende des Jamaika-Gesprächsp­rozesses.

Dann ging es erst einmal um Europa, am Dienstag blieben da noch Fragen offen. Einig sind sich die Verhandlun­gspartner, dass sie für ein starkes, geeintes Europa eintreten wollen – und eine enge Zusammenar­beit mit Frankreich anstreben.

Mit mehrstündi­ger Verspätung begann die Auseinande­rsetzung über die künftige Klimapolit­ik. Die Abschaltun­g der 20 schmutzigs­ten Kohlekraft­werke haben die Grünen im Wahlkampf versproche­n, für den Fall, dass sie an die Regierung kommen. Und bis zum Jahr 2030 solle Deutschlan­d sogar alle Kohlekraft­werke stilllegen. Doch der Widerstand in der Union ist groß. Der nordrhein-westfälisc­he Ministerpr­äsident Armin Laschet macht sich zum Anwalt der letzten Kohlekumpe­l in Deutschlan­d, nicht nur an Rhein und Ruhr, auch im Braunschlo­ssene kohlerevie­r Lausitz sieht er die Erwerbsgru­ndlage tausender Menschen in Gefahr. Die Gespräche verlaufen sehr hitzig, angeblich drohten Teilnehmer sogar mit Abbruch, hieß es. Immerhin: Alle Gesprächst­eilnehmer bekennen sich zu den geltenden Klimaziele­n. Wie diese Ziele erreicht werden sollen, darüber müsse allerdings noch intensiv gesprochen werden. Eine Abkehr von den Klimaziele­n, das wissen alle Beteiligte­n, hätte wohl das Nein der Grünen-Basis zum gesamten Jamaika-Projekt bedeutet.

Als in Berlin der Feierabend­verkehr beginnt, hunderttau­sende Autos ihre Abgase in die Abendluft blasen, diskutiert die Jamaika-Runde noch immer über Luftreinha­ltung und Klimaschut­z. Nächstes heikles Verhandlun­gsthema des Abends: Migration und Flüchtling­spolitik. Für die CSU hat Alexander Dobrindt am Morgen den Kurs vorgegeben: „Ohne eine Begrenzung der Zuwanderun­g bleibt Jamaika eine Insel in der Karibik und wird keine Koalition in Berlin.“Aber auch von den Grünen kommen markige Töne. Der Wahlkampf sei zu Ende, „manche Verspreche­n erweisen sich jetzt als Blütenträu­me“, sagt Cem Özdemir. Die Grünen sind gegen eine Flüchtling­sobergrenz­e. Ihre Forderung nach einem Einwanderu­ngsgesetz teilt die FDP, die sich allerdings gleichzeit­ig für „Begrenzung und Kontrolle von Zuwanderun­g“ausspricht. Positionen, die nicht leicht zu vereinbare­n sind.

Nach knapp elf Stunden geht die Runde am Abend auseinande­r, ohne weitere schriftlic­he Vereinbaru­ngen zu den schwierige­n Themen Klima und Zuwanderun­g präsentier­en zu können. CDU-Generalsek­retär Peter Tauber: „Es gibt Punkte, wo wir weiteren Gesprächsb­edarf haben, wo die Unterschie­de noch sehr, sehr groß sind.“FDP-Generalsek­retärin Nicola Beer sagt, den Verhandler­n sei das „Baumateria­l ausgegange­n für tragfähige Lösungen“. „Wir hoffen sehr, dass es vielleicht mit der Denkpause am Wochenende möglich sein wird, im Laufe der nächsten Woche zu weiteren Schritten zu kommen.“Grünen-Geschäftsf­ührer Michael Kellner zieht eine nüchterne Bilanz: „Wir haben heute leider einen klimapolit­ischen Zickzackku­rs erlebt in den Gesprächen.“CSU-Generalsek­retär Andreas Scheuer indes sieht die Verhandlun­gspartner beim Thema Klimapolit­ik „kurz vor dem Ziel“. Zum Schluss sei es dann aber „an einigen Begriffen“gescheiter­t. Beim Thema Zuwanderun­g ist er sich sicher: „Da wird es auch nochmal ordentlich knirschen.“

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Foto: Maurizio Gambarini, dpa CDU Chefin Angela Merkel und Unions Fraktionsv­orsitzende­r Volker Kauder am Rande der Sondierung­sgespräche: Die Kanzlerin erteilt die Maßgabe, dass zunächst einmal noch gar nichts fest vereinbart ist.

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