„Alkohol ist überall zu haben“
Dr. Alfred Hecker vom Bezirkskrankenhaus über Sucht, Behandlung und die Bedeutung der Selbstfürsorge
Herr Hecker, wie behandeln Sie alkoholsüchtige Patienten?
Hecker: Sie durchlaufen im Bezirkskrankenhaus zunächst ein standardisiertes 21-Tage-Programm. Diese „qualifizierte Entgiftung“wird von den Krankenkassen gezahlt und enthält nicht nur den Entzug, sondern auch eine psychosoziale Unterstützung und Motivationsarbeit.
Reicht das dann?
Hecker: Nein. Bei Alkoholsucht gibt es ja kein „danach“, sondern nur ein „abstinent seit ...“. Unser Belohnungssystem im Gehirn ist so stark verankert, dass diese Sucht eigentlich nie als geheilt gesehen werden kann. Im Anschluss an die 21 Tage empfehlen wir unbedingt eine Langzeittherapie in einer Reha. Die dauert 16 Wochen. Denn etwa 80 Prozent der Süchtigen leiden außerdem an einer anderen psychiatrischen Störung wie Depression oder Angststörung – entweder als Ursache oder Folge der Sucht. Und auch diese müssen behandelt werden.
Kennen Sie langfristige Erfolgsquoten Ihrer Therapie?
Hecker: Ich persönlich bekomme keine Rückmeldungen der ehemaligen Patienten. Aber Untersuchungen aus dem Jahr 2010 zeigten, dass von 13000 Patienten, die an einer Entwöhnungsbehandlung teilgenommen hatten, nach einem Jahr noch rund 61 Prozent abstinent waren. Unterscheidet sich Alkoholsucht von anderen Abhängigkeiten?
Hecker: Alkohol ist überall zu haben. Das ist der wichtige Unterschied. Und eine Voraussetzung für die etwa 2,5 Millionen Alkoholiker in Deutschland – wobei die Dunkelziffer der Abhängigen weit höher liegen dürfte. Es gibt mehrere Suchtkriterien: Jemand ist abhängig, wenn er oder sie immer mehr Alkohol braucht, um den Pegel zu erreichen. Wenn er außerdem kein Glas mehr stehen lassen kann (Kontrollverlust) und zudem der Suchtdruck so groß ist, dass es zum Frühstück schon ein Bier sein muss.
Das kann sich ja über Jahre entwickeln. Was passiert in der Zeit mit den Menschen, die mit diesem Suchtkranken zusammenleben?
Hecker: Die geraten meist in einen Strudel. Sie wollen helfen, mahnen und versuchen, das Denkverhalten des anderen zu ändern. Das funktioniert meist nicht, weil Vorwürfe und Konfrontationen Widerstand erzeugen. Die Familienmitglieder geraten zudem oft in eine Co-Abhängigkeit. Das heißt, sie tun Dinge, mit denen sie die Abhängigkeit des anderen verstärken: Sie verschleiern die Sucht nach außen, räumen Flaschen weg oder besorgen sogar Nachschub – sie sind überfordert und erleichtern dem süchtigen Angehörigen ungewollt das Weitertrinken.
Wie sinnvoll sind Selbsthilfeorganisationen wie die Al-Anon-Familiengruppen?
Hecker: Sehr! Wir empfehlen sie sowohl für die Süchtigen selbst als auch für die Angehörigen. Die Selbstfürsorge ist unheimlich wichtig, vor allem auch für die Kinder in betroffenen Familien. Sieht man die Anzahl der Abhängigen in Deutschland, müsste es noch viel mehr Angehörigengruppen geben. Denn wer selbst instabil ist, kann auch andere nicht stabilisieren. Stefanie Schoene