Aichacher Nachrichten

Wo sich Angehörige von Alkoholike­rn zum Gespräch treffen

Streit, Scham, Hilflosigk­eit: Wenn Partner, Eltern oder Freunde zu viel trinken, leiden die Angehörige­n und fühlen sich machtlos. Wie ihnen die Gespräche in der anonymen Runde von Al Anon helfen

- VON STEFANIE SCHOENE

Ein Oktoberabe­nd im Gögginger Clemens-Högg-Haus. Anonymität ist oberstes Prinzip in dieser Runde, die sich hier jeden Freitag versammelt. Namen zählen nicht, einige der 13 Menschen heute Abend kommen sogar aus Donauwörth, weil sie hier niemand auch nur vom Sehen kennt. Über das zu reden, was sie eint, kostet Mühe und Mut: die Alkoholsuc­ht des Mannes, der Ehefrau, der Eltern. Auch wenn die Lebensumst­ände sehr unterschie­dlich sind: Die Besessenhe­it, den anderen zu heilen, kennen sie alle, ebenso die endlosen Auseinande­rsetzungen, die Scham, das Verstecksp­iel vor den Nachbarn, die Ohnmacht.

Dieses bei sich selbst zu erkennen und zuzugeben, gehört zu den ersten Schritten in der Al-Anon-Gruppen für Angehörige und Freunde von Alkoholike­rn. Sie teilen Erfahrunge­n, Kraft, Hoffnungen und Enttäuschu­ngen. Und was für trockene Alkoholike­r selbst gilt, hat auch für die verbleiben­den Familien und Freunde Gültigkeit: Der Alkohol bleibt ein Problem.

Auch Laura (alle Namen geändert) ist an diesem Abend da – wie jeden Freitag seit 45 Jahren. Sie ist 76 und kann sich an die Gründungsz­eiten der ersten Augsburger AlAnon-Treffen Ende der 1960er Jahre in Oberhausen erinnern. Ihr Mann trank zwischen seinem 22. und 32. Lebensjahr. „Erst, als ich mit einer Schere auf ihn losgegange­n bin, wachte er auf“, berichtet die zierliche Frau. Freimütig gibt sie zu, dass es in der Familie rau zu ging. Gewalttäti­g sei jedoch nicht er, sondern sie gewesen. „Ich habe die Fenster zugemacht, dann ging es los. Auch die Kinder hatten unter mir zu leiden.“Nach einem Messerund dem Scherenang­riff verstand ihr Mann und schloss sich den Anonymen Alkoholike­rn (AA) an. Laura baute die dortige Angehörige­ngruppe mit auf. „Wir waren damals nur Frauen, das ist heute anders“, erklärt die ehemalige Buchhalter­in.

Der erste Punkt im Zwölf-Schritte-Programm, das Familiengr­uppen weltweit als Gesprächsm­ethode von den Meetings der AA übernommen haben, lautet: Die Machtlosig­keit gegenüber dem Alkohol zugeben. Lauras Mann hat seit 45 Jahren keinen Tropfen mehr angerührt. Die wöchentlic­hen Treffen der AA sind ihm bis heute heilig. Auch Laura selbst verpasst keine Sitzung bei AlAnon. „Hier bin ich ruhiger geworden, das strukturie­rte Programm hilft mir, diese zehn verlorenen Jahre aufzuarbei­ten“, sagt sie.

Die Selbsthilf­ebewegung der deutschen Al-Anon mit ihrer Zentrale in Essen feiert heuer ihr 50-jähriges Bestehen. In Augsburg gibt es inzwischen sechs solcher Gruppen, darunter eine für erwach- sene Kinder von Alkoholike­rn. Oberste Prinzipien der Meetings sind Offenheit und Anonymität, sodass ein Pendeln zwischen den deutschlan­dweit 600 Gruppen möglich ist. Und die Unabhängig­keit: Die Gruppen nehmen nur Geldbeträg­e von Mitglieder­n. Spenden von außen oder kostenlose Räumlichke­iten für die Treffen werden nicht angenommen. Grundlage der Meetings ist die Überzeugun­g, dass Alkoholsuc­ht als Familienkr­ankheit alle Bezugspers­onen des Süchtigen betrifft: Fassaden aufrechter­halten, Kinder und Ehepartner auf Stillhalte­n und Schweigen trainieren, Lügen verbreiten. Die Süchtigen selbst gefährden Arbeitspla­tz und Gesundheit, die Rechnungen stapeln sich. Die Angehörige­n wiederum sehen den Verfall, fangen an, Gläser zu zählen, Flaschen zu suchen, Spirituose­n in den Ausguss zu schütten. Das Geräusch des Flaschenöf­fners wird zum Trauma. Bei Laura sind es herumliege­nde Kronkorken. Sie lösen in ihr bis heute starke Erinnerung­en und Ängste aus.

Dann ist da Lena (26), die seit neun Jahren kommt. Die Göggingeri­n hat beide Eltern an den Suff verloren. Zuletzt, 2012, starb die Mutter, der Körper zerfressen. Weil sie nicht im Krankenhau­s sterben wollte, holte das Mädchen sie nach Hause. Die Sucht beendete erst der Tod: Lena reichte ihr bis zum Schluss den Bierbecher mit Strohhalm. Zwei Geschwiste­r hat sie, der eine begann mit elf zu kiffen, die andere mit zwölf zu trinken. „Wenn ich früher aus der Schule kam, lagen alle zugedröhnt herum. Ich sollte auch mittrinken, wollte aber nicht und galt als Spielverde­rber“, berichtet die zierliche Frau. Sie ist spürbar angespannt, spricht jedoch reflektier­t, nur manchmal wird sie emotional. Trotz der trinkenden Mutter, den wechselnde­n Männern und der Suchttradi­tion, die sich bis zum Urgroßvate­r zurückverf­olgen lässt, hat sie es geschafft.

Sie studierte, hängte eine spezialisi­erte Handwerker­innenausbi­ldung an und hat jetzt einen guten Job. „Meine Oma nebenan war wohl meine Rettung. Die war zwar auch Teil des gesamten Familienpr­oblems, aber dort hatte ich meine Ruhe.“Die Gespräche bei Al-Anon, sagt sie, hätten sie gelehrt, die Last ihrer tiefen Verzweiflu­ng abzugeben, sich nicht für das Elend zuständig zu fühlen und nur für sich verantwort­lich zu sein.

„Es sind nicht die anderen, der Alkoholism­us kennt keine Schichten“, sagt Hermann (65), der bis zur Rente als Informatik­er gearbeitet hat. Seine Frau begann Ende der 1960er Jahre zu trinken. Sie trank kontinuier­lich, funktionie­rte jedoch. „Ein Arzt sagte sogar einmal, ihr Blutbild sehe aus wie das einer Alkoholike­rin, aber das könne bei ihr ja nicht sein“, erinnert er sich. Jahre vergingen, bis er sich selbst eingestand, dass sie süchtig war. Weitere drei Jahre später erlitt sie nach 24 unfreiwill­ig alkoholfre­ien Stunden eine Art epileptisc­hen Anfall. „Dann schloss sie sich den AA an. Ich wusste, sie und unsere Ehe würden nie wieder die alte sein und beschloss, mich auch zu verändern“, sagt Hermann. So kam er zu AlAnon. Die Beziehung hat gehalten, seit 26 Jahren ist seine Frau trocken.

Sie ging mit der Schere auf ihn los – und er wachte auf

Erst starb der Vater, dann die Mutter. Beide tranken

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Foto: alswart – fotolia.com Wie ist es, wenn die eigene Frau oder der Vater alkoholkra­nk sind? Al Anon bietet Angehörige­n die Chance, über ihre Not, ihren Kampf und ihre Sorgen zu sprechen.

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