Wo sich Angehörige von Alkoholikern zum Gespräch treffen
Streit, Scham, Hilflosigkeit: Wenn Partner, Eltern oder Freunde zu viel trinken, leiden die Angehörigen und fühlen sich machtlos. Wie ihnen die Gespräche in der anonymen Runde von Al Anon helfen
Ein Oktoberabend im Gögginger Clemens-Högg-Haus. Anonymität ist oberstes Prinzip in dieser Runde, die sich hier jeden Freitag versammelt. Namen zählen nicht, einige der 13 Menschen heute Abend kommen sogar aus Donauwörth, weil sie hier niemand auch nur vom Sehen kennt. Über das zu reden, was sie eint, kostet Mühe und Mut: die Alkoholsucht des Mannes, der Ehefrau, der Eltern. Auch wenn die Lebensumstände sehr unterschiedlich sind: Die Besessenheit, den anderen zu heilen, kennen sie alle, ebenso die endlosen Auseinandersetzungen, die Scham, das Versteckspiel vor den Nachbarn, die Ohnmacht.
Dieses bei sich selbst zu erkennen und zuzugeben, gehört zu den ersten Schritten in der Al-Anon-Gruppen für Angehörige und Freunde von Alkoholikern. Sie teilen Erfahrungen, Kraft, Hoffnungen und Enttäuschungen. Und was für trockene Alkoholiker selbst gilt, hat auch für die verbleibenden Familien und Freunde Gültigkeit: Der Alkohol bleibt ein Problem.
Auch Laura (alle Namen geändert) ist an diesem Abend da – wie jeden Freitag seit 45 Jahren. Sie ist 76 und kann sich an die Gründungszeiten der ersten Augsburger AlAnon-Treffen Ende der 1960er Jahre in Oberhausen erinnern. Ihr Mann trank zwischen seinem 22. und 32. Lebensjahr. „Erst, als ich mit einer Schere auf ihn losgegangen bin, wachte er auf“, berichtet die zierliche Frau. Freimütig gibt sie zu, dass es in der Familie rau zu ging. Gewalttätig sei jedoch nicht er, sondern sie gewesen. „Ich habe die Fenster zugemacht, dann ging es los. Auch die Kinder hatten unter mir zu leiden.“Nach einem Messerund dem Scherenangriff verstand ihr Mann und schloss sich den Anonymen Alkoholikern (AA) an. Laura baute die dortige Angehörigengruppe mit auf. „Wir waren damals nur Frauen, das ist heute anders“, erklärt die ehemalige Buchhalterin.
Der erste Punkt im Zwölf-Schritte-Programm, das Familiengruppen weltweit als Gesprächsmethode von den Meetings der AA übernommen haben, lautet: Die Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol zugeben. Lauras Mann hat seit 45 Jahren keinen Tropfen mehr angerührt. Die wöchentlichen Treffen der AA sind ihm bis heute heilig. Auch Laura selbst verpasst keine Sitzung bei AlAnon. „Hier bin ich ruhiger geworden, das strukturierte Programm hilft mir, diese zehn verlorenen Jahre aufzuarbeiten“, sagt sie.
Die Selbsthilfebewegung der deutschen Al-Anon mit ihrer Zentrale in Essen feiert heuer ihr 50-jähriges Bestehen. In Augsburg gibt es inzwischen sechs solcher Gruppen, darunter eine für erwach- sene Kinder von Alkoholikern. Oberste Prinzipien der Meetings sind Offenheit und Anonymität, sodass ein Pendeln zwischen den deutschlandweit 600 Gruppen möglich ist. Und die Unabhängigkeit: Die Gruppen nehmen nur Geldbeträge von Mitgliedern. Spenden von außen oder kostenlose Räumlichkeiten für die Treffen werden nicht angenommen. Grundlage der Meetings ist die Überzeugung, dass Alkoholsucht als Familienkrankheit alle Bezugspersonen des Süchtigen betrifft: Fassaden aufrechterhalten, Kinder und Ehepartner auf Stillhalten und Schweigen trainieren, Lügen verbreiten. Die Süchtigen selbst gefährden Arbeitsplatz und Gesundheit, die Rechnungen stapeln sich. Die Angehörigen wiederum sehen den Verfall, fangen an, Gläser zu zählen, Flaschen zu suchen, Spirituosen in den Ausguss zu schütten. Das Geräusch des Flaschenöffners wird zum Trauma. Bei Laura sind es herumliegende Kronkorken. Sie lösen in ihr bis heute starke Erinnerungen und Ängste aus.
Dann ist da Lena (26), die seit neun Jahren kommt. Die Göggingerin hat beide Eltern an den Suff verloren. Zuletzt, 2012, starb die Mutter, der Körper zerfressen. Weil sie nicht im Krankenhaus sterben wollte, holte das Mädchen sie nach Hause. Die Sucht beendete erst der Tod: Lena reichte ihr bis zum Schluss den Bierbecher mit Strohhalm. Zwei Geschwister hat sie, der eine begann mit elf zu kiffen, die andere mit zwölf zu trinken. „Wenn ich früher aus der Schule kam, lagen alle zugedröhnt herum. Ich sollte auch mittrinken, wollte aber nicht und galt als Spielverderber“, berichtet die zierliche Frau. Sie ist spürbar angespannt, spricht jedoch reflektiert, nur manchmal wird sie emotional. Trotz der trinkenden Mutter, den wechselnden Männern und der Suchttradition, die sich bis zum Urgroßvater zurückverfolgen lässt, hat sie es geschafft.
Sie studierte, hängte eine spezialisierte Handwerkerinnenausbildung an und hat jetzt einen guten Job. „Meine Oma nebenan war wohl meine Rettung. Die war zwar auch Teil des gesamten Familienproblems, aber dort hatte ich meine Ruhe.“Die Gespräche bei Al-Anon, sagt sie, hätten sie gelehrt, die Last ihrer tiefen Verzweiflung abzugeben, sich nicht für das Elend zuständig zu fühlen und nur für sich verantwortlich zu sein.
„Es sind nicht die anderen, der Alkoholismus kennt keine Schichten“, sagt Hermann (65), der bis zur Rente als Informatiker gearbeitet hat. Seine Frau begann Ende der 1960er Jahre zu trinken. Sie trank kontinuierlich, funktionierte jedoch. „Ein Arzt sagte sogar einmal, ihr Blutbild sehe aus wie das einer Alkoholikerin, aber das könne bei ihr ja nicht sein“, erinnert er sich. Jahre vergingen, bis er sich selbst eingestand, dass sie süchtig war. Weitere drei Jahre später erlitt sie nach 24 unfreiwillig alkoholfreien Stunden eine Art epileptischen Anfall. „Dann schloss sie sich den AA an. Ich wusste, sie und unsere Ehe würden nie wieder die alte sein und beschloss, mich auch zu verändern“, sagt Hermann. So kam er zu AlAnon. Die Beziehung hat gehalten, seit 26 Jahren ist seine Frau trocken.
Sie ging mit der Schere auf ihn los – und er wachte auf
Erst starb der Vater, dann die Mutter. Beide tranken