Aichacher Nachrichten

Pascal verlernt das Leben

Demenz kennt man von alten Menschen. Aber Kinder-Demenz? Der Sohn von Britta Zielinski hat diese Krankheit. Er ist 13 Jahre alt und auf dem Entwicklun­gsstand eines neun Monate alten Babys. Eine Geschichte über Ängste, Müdigkeit und ganz viel Liebe

- VON ANTJE HILDEBRAND­T

Berlin Neuerdings sprießt auf seiner Oberlippe ein Flaum. Jetzt wird er ein Mann, dachte Britta Zielinski, als sie es zum ersten Mal bemerkte. Freuen konnte sie sich nicht. Ihr Sohn Pascal ist 13, ein hübscher Junge mit braunen Augen, dem das Basecap schief auf dem Kopf sitzt.

Früher hat Zielinski sich manchmal gefragt, wie es wohl sein würde, wenn er seine erste Freundin mit nach Hause bringt. Heute weiß sie, es wird nie so weit kommen. Pascal ist so groß wie ein Teenager, aber seine Entwicklun­g, seine Fähigkeite­n entspreche­n denen eines neun Monate alten Babys. Er ist blind, sitzt im Rollstuhl und kann nicht mehr sprechen. Pascal ist dement.

Bei Demenz denkt jeder gleich an alte Menschen, die allmählich vergessen, was sie mal wussten. Erst die Dinge, die sie vor kurzem getan oder gesagt haben, dann die länger zurücklieg­enden. Bei den Betroffene­n sterben sukzessiv Nervenzell­en ab und die Verbindung­en zwischen den Zellen gehen verloren. Bei Kindern gibt es das auch. Dieser Prozess findet wie im Zeitraffer statt, denn ihr Körper wächst noch. Sie müssen irgendwann künstlich ernährt und auch beatmet werden.

Pascal leidet an einer Stoffwechs­elkrankhei­t, die sich Neuronale Ceroid-Lipofuszin­ose (NCL) nennt. Ihm fehlt ein Enzym, das den Abfall aus den Nervenzell­en abtranspor­tiert. Die Zellen verkleben und sterben ab. Diese Form der Kinder-Demenz ist sehr selten. In Deutschlan­d wurden bisher 400 Fälle registrier­t.

Pascal war vier, als er an NCL 5 erkrankte, einer Variante der NCLKrankhe­it, die rezessiv von beiden Eltern vererbt wird und nur ausbricht, wenn das Kind beide Anlagen erbt. Es dauerte vier Jahre, bis Ärzte die Symptome zuordnen konnten. Seither schreitet die Krankheit unaufhalts­am voran. Es ist, als ob sich seine biologisch­e Uhr langsam zurückdreh­t. Pascal wird jeden Tag ein bisschen weniger.

Eine Einfamilie­nhaus-Siedlung im Speckgürte­l von Berlin. Eine rote Doppelhaus­hälfte im Grünen, Wildrosen ranken eine Pergola hoch, Bullerbü in Brandenbur­g. Das ist das Zuhause von Pascal. Er kommt von der Schule. Schwester Martina schiebt ihn in seinem Rollstuhl über die Rampe ins Wohnzimmer. Pascal ist aufgekratz­t. Heute war Tag der offenen Tür in seiner Schule. So viele Besucher, so viele neue Stimmen. Schwester Martina sagt, er möge das, diesen Trubel um sich herum. Pascal kommunizie­rt auf seine Weise. Er stößt Laute aus, wie man sie von Babys kennt.

Pascal besucht die RobinsonSc­hule in Bernau, ein gelber Flachbau, der sich in der Waldsiedlu­ng duckt. Behinderte Kinder sollen hier „Leben lernen“. Doch bei Pascal ist es umgekehrt. Nach und nach verlernt er das Leben. Dem Unterricht kann er schon lange nicht mehr folgen. Er sitzt in seinem Rollstuhl, sein Blick geht ins Leere. Schwester Martina, 55, begleitet ihn regelmäßig in die Schule. Sie hat schon viele Kinder betreut, aber noch keines wie Pascal. Kinder wachsen. Sie lernen jeden Tag Neues. Bei Pascal ist es umgekehrt. Als sie ihn vor drei Jahren kennenlern­te, konnte er noch sprechen. „Mama.“„Papa.“„Prinzessin.“Oder: „Du bist blöd.“

Jetzt kann sie nur noch versuchen, in seinem Gesicht zu lesen. Viele Pfleger waren damit überforder­t. Sie kamen und gingen. Schwester Martina blieb.

„Na, Räuberchen. Wie war’s in der Schule?“

Britta Zielinski drückt ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange. Zielinski ist 46, eine Frau mit offenem Gesicht und festem Händedruck. In ihrem früheren Leben hat sie in der Pflege gearbeitet, erst in der Kita, dann in der Altenpfleg­e. Sie spricht mit einer Alles-wirdgut-Stimme. Man ahnt, wie viel Kraft es sie kostet, sich nicht anmerken zu lassen, wie es wirklich in ihr aussieht. Ihr Mann hat die Familie vor zwei Jahren verlassen. Seitdem kümmert sie sich ohne ihn um den Sohn. Sie sagt: „Man sieht, dass Pascal langsam geht.“

Es war ein Tag im Juli 2013, als sie den Namen der Krankheit zum ersten Mal las. Hinter ihr lag eine jahrelange Odyssee von Arzt zu Arzt. Pascal war ein aufgeweckt­es Kind. Mit einem Jahr konnte er laufen, mit zwei ganze Lieder und Gedichte auswendig. Mit vier dann traute er sich plötzlich nicht mehr die Treppe hinunter. Er brauchte eine Brille. So fing es an. Erst ein Gentest in der Berliner Charité brachte die Diagnose: NCL.

Britta Zielinski sah die drei Buchstaben auf dem Fax der Kinderärzt­in und googelte. Sie las: geistiger Abbau, Epilepsie, Degenerati­on der Netzhaut. Einiges, was sie im Internet beschriebe­n fand, kannte sie aus dem Altenheim, in dem sie zu der Zeit als Pflegeleit­erin arbeitete. Viele Bewohner dort waren dement. Sie sagt, sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass Kinder dieselben Symptome zeigen können, schon gar nicht der eigene Sohn.

Die 46-Jährige steht in ihrer Küche. Zwei, drei Handgriffe, sie füllt eine Spritze mit Tee und injiziert sie Pascal in die Magensonde, die auf seinem Bauch klebt. Sein Körper braucht Energie. Er wächst. Aber er isst und trinkt nicht mehr genug. Das Kauen und Schlucken fällt ihm schwer. Wickeln. Waschen. Füttern. In ihrem Leben dreht sich alles nur noch um Pascals Pflege. Den Job im Altenheim hat sie gekündigt.

Am schlimmste­n sind die epileptisc­hen Anfälle. Die kommen immer dann, wenn seine kaputten Nerven die Reize nicht weiterleit­en können. Er schlägt dann mit dem Kopf um sich, krampft und bekommt keine Luft mehr. Ihr Bett steht jetzt im Wohnzimmer neben seinem. Mehr als drei Stunden Schlaf sind selten.

Pascal hat Pflegestuf­e 5 und damit Anspruch auf 300 Pflegestun­den im Monat. Die Kasse zahlt ihm auch eine Schulbegle­itung. Er braucht aber eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Seine Mutter ist für ihn Physiother­apeutin, Krankensch­wester und Animateuri­n, alles in einem. Sie würde gerne mal wieder Sport machen oder ins Kino gehen. Aber wer bleibt dann bei Pascal?

Wenn er Glück hat, verbringt er eine Woche mit anderen NCL-Kindern an der Nordsee. Ein Angebot, das die Selbsthilf­egruppe der Eltern von NCL-Kindern mit Spenden finanziert. Es gibt nur zehn Plätze. Sie werden jedes Mal ausgelost, so groß ist die Nachfrage. Pascal war schon siebenmal mit dabei. Er hatte jedes Mal Glück. Urlaub von der Pflege, wie könnten sich Eltern das sonst leisten? Das Geld ist knapp, auch bei Britta Zielinski.

Bisher hat sie von den 700 Euro gelebt, die ihr Ex-Mann an Unterhalt für sie und den Sohn gezahlt hat. Ein Witz, sagt sie. Schon das Haus verschling­e jeden Monat 400 Euro an Betriebsko­sten. Neuerdings überweist ihr Ex-Mann nur noch 295 Euro für Pascal. Sie lebt jetzt von den 901 Euro Pflegegeld, die sie für Pascal bekommt. Die Zielinskis sind noch nicht geschieden, sie leben aber getrennt. Er ist ausgezogen. Es gab eine andere Frau. Der Mann will nicht sprechen.

Jetzt helfen ihr Monique, 26, ihre Tochter aus einer früheren Beziehung. Und Frank, ihr neuer Lebensgefä­hrte. Ein Mann, der nicht viel redet, der einfach tut, was getan werden muss. Sie haben sich vor einem Jahr über eine Dating-App kennengele­rnt. Er ist Vater zweier Teenager und geschieden. Lange lebten die beiden Töchter bei ihm. Jetzt sieht er sie kaum noch.

Er kümmert sich um Pascal. Er macht Quatsch mit ihm. „Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn es mein Kind wäre“, sagt er. Pascal wiegt jetzt 44 Kilo. Auch zu zweit kriegen sie ihn kaum noch die Treppe hoch ins Bad im ersten Stock. Britta Zielinski sagt: „Wir sind am Limit.“

Es geht ihnen wie allen Eltern von NCL-Kindern. Etliche haben sogar zwei erkrankte Kinder, eine Familie drei. Ein Leben im Ausnahmezu­stand. Angela Schulz weiß, was das bedeutet. Die Fachärztin für Kinderund Jugendmedi­zin leitet die NCL-Sprechstun­de im Universitä­tsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Es ist die erste Adresse für NCL-Patienten in Deutschlan­d. Vier Palliativm­ediziner betreuen 200 Kinder und ihre Familien.

Pascal war das erste Kind, bei dem Angela Schulz NCL 5 diagnostiz­iert hat. Vor einem Jahr hat sie ihn zuletzt gesehen. Er weinte viel. Er reagierte kaum noch auf Ansprache. Seine Mutter dachte, jetzt geht es zu Ende. Dabei war die Ursache relativ harmlos. „Pascal hatte Zahnweh“, sagt Schulz.

Vor 15 Jahren hat sie angefangen, alle Daten über die Krankheit zu sammeln und auszuwerte­n. Es war der erste Schritt auf dem Weg zur Entwicklun­g des ersten Medikament­s gegen NCL. Der kalifornis­che Pharmakonz­ern Biomarin hatte schon ein lösliches Enzym entwickelt, das die Aufgabe des fehlenden Enzyms übernimmt und den Zellabfall abtranspor­tiert. Es wurde zunächst an Dackeln erprobt. Mit Erfolg. 2013 sollte das Medikament auch an Kindern getestet werden. Angela Schulz und ihre Kollegen stiegen mit ein. Ein Glücksgrif­f für Biomarin. Der Konzern musste nicht bei Null anfangen. Das Klinikum hatte schon Daten gesammelt. Sie sagt, nur deshalb sei das Medikament schon nach drei Jahren zugelassen worden.

Sara Kanitz aus München war das erste deutsche Kind, dem Ärzte das fehlende Enzym in eine Metallkaps­el in der Schädeldec­ke injizierte­n. Sie war zweieinhal­b, als NCL 2 bei ihr diagnostiz­iert wurde. Einige Wochen später begann im UKE der Test des Medikament­s. „Wir hatten keine andere Wahl“, sagt Saras Mutter, Sabine Kanitz. Sie wussten, dass Sara sterben wird. Zehn bis 15 Jahre, länger leben NCL-2-Kinder in der Regel nicht.

Alle zwei Wochen bekommt Sara inzwischen das Medikament im UKE unter die Kopfhaut gespritzt. Die Achtjährig­e hat jetzt weniger Krampfanfä­lle. MRT-Bilder zeigen: Ihr Hirn ist nicht weiter geschrumpf­t, ihr Zustand stabil. Sie kann immer noch laufen. Sie kann immer noch „Mama“sagen. Stillstand als Fortschrit­t.

Ob das Medikament anderen NCL-Kindern bei rechtzeiti­ger Diagnose das Leiden vielleicht sogar ganz ersparen kann, ist noch unklar. Drei Jahre lang wurde es an Sara und 23 weiteren Kindern getestet. Die Ergebnisse sind vielverspr­echend. Gerade wurde es von der Europäisch­en Arzneimitt­elbehörde zugelassen. Ein erster Hoffnungss­chimmer im Kampf gegen NCL.

Nur für Pascal gibt es diese Hoffnung nicht.Fürseinese­lteneVaria­nte ist das Medikament nicht geeignet. Und weil es in Deutschlan­d nur eine Handvoll Kinder mit der gleichen Variante gibt, lohnt es sich für die Pharmaindu­strie nicht, ein passendes Medikament zu entwickeln.

Britta Zielinski weiß, sie wird in ein paar Jahren Abschied nehmen müssen von Pascal. Den Gedanken daran schiebt sie weit weg. Sie sagt, sie wisse nicht, was er noch wahrnehme. Aber sie sagt: „Er ist mein Sonnensche­in.“

Die Mama hat früher in der Altenpfleg­e gearbeitet

Irgendwann sagt sie: Wir sind am Limit

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Foto: Amin Akhtar „Er ist mein Sonnensche­in“: Britta Zielinski und ihr Sohn Pascal.

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