Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (1)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Scha
Ü brigens war Ruth erst der dritte oder vierte Fall, den ich mir aussuchen durfte. Ihr war damals schon eine Betreuerin zugewiesen worden, und für mich war es nicht ganz einfach, meinen Willen durchzusetzen. Aber am Ende gelang es mir, und in dem Augenblick, als ich Ruth wiedersah, in diesem Erholungszentrum in Dover, fielen unsere vielen Differenzen – auch wenn sie sich nicht gerade in Luft auflösten – weit weniger ins Gewicht als all das Verbindende: zum Beispiel, dass wir miteinander in Hailsham aufgewachsen waren, dass wir Erinnerungen teilten, die nur uns gehörten. Ich glaube, in jenen Tagen habe ich damit angefangen, mir als Spender bewusst Menschen auszusuchen, die ich von früher kannte, vorzugsweise ehemalige Hailsham-Kollegiaten.
Im Laufe der Jahre hat es immer wieder Phasen gegeben, in denen ich Hailsham zu vergessen versuchte und mir vornahm, nicht so oft zurückzublicken. Bis ich an den Punkt gelangte, wo ich aufhörte, dieser Versuchung zu widerstehen. Es hing mit jenem Spender zusammen, für den ich in meinem dritten Jahr als Betreuerin zuständig war; mit seiner Reaktion, als ich erwähnte, ich stamme aus Hailsham. Er hatte gerade seine dritte Spende hinter sich, sie war nicht gut verlaufen, und er muss gewusst haben, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er konnte kaum atmen, aber er sah mich an und sagte: „Hailsham. Ich wette, es war schön dort.“Am nächsten Morgen, als ich mit ihm plauderte, um ihn abzulenken, und fragte, wo er denn aufgewachsen sei, nannte er einen Ort in Dorset, und sein Gesicht unter den Flecken verzog sich zu einer Grimasse, wie ich sie noch nicht gesehen hatte. Und in dem Moment wurde mir klar, wie verzweifelt er sich bemühte, nicht daran zu denken. Stattdessen wollte er von Hailsham hören.
Also erzählte ich ihm während der nächsten fünf oder sechs Tage alles, was er wissen wollte, und er lag da, an Geräte und Schläuche an- geschlossen, und ein sanftes Lächeln stahl sich in sein Gesicht. Er fragte mich nach den großen und den kleinen Dingen. Nach unseren Aufsehern, nach den Schatzkisten unter jedem Bett, in denen wir unsere Sammlungen aufbewahrten, nach unseren Fußball- und RoundersMatches, nach dem schmalen Pfad, der rund um das Haupthaus führte und dessen Winkeln und Spalten folgte, nach dem Ententeich, dem Essen, dem Blick aus dem Zeichensaal über die Felder an einem nebligen Morgen. Manches wollte er wieder und wieder hören; gelegentlich fragte er nach Dingen, die ich ihm erst am Vortag erzählt hatte, so als hätte ich sie noch nie erwähnt. „Hattet ihr einen Pavillon auf dem Sportplatz?“– „Wer war dein Liebling-Aaufseher?“Zuerst hielt ich das für eine Folge der Medikamente, aber dann begriff ich, dass er eigentlich ganz klar im Kopf war. Er wollte nicht nur von Hailsham hören, sondern sich an Hailsham erinnern, als wäre es seine eigene Kindheit gewesen.
Er wusste, dass er nahe daran war abzuschließen, und anscheinend war das seine Art, damit umzuge-hen: sich von mir Eindrücke so beschreiben zu lassen, dass sie ganz tief eindrangen – vielleicht damit ihm in den schlaflosen Nächten, unter dem Einfluss der Medikamente, der Schmerzen und der Erschöpfung, die Grenze zwischen meinen und seinen Erinnerungen verschwamm. Damals wurde mir zum ersten Mal bewusst, wirklich bewusst, wie viel Glück wir gehabt hatten – Tommy, Ruth, ich, wir alle. Wenn ich jetzt übers Land fahre, erinnern mich immer noch viele Dinge an Hailsham. Ich fahre an einer nebelverhangenen Wiese entlang oder durchquere ein Tal, und in der Ferne, halb hinter Bäumen verborgen, taucht ein Herrenhaus auf oder auch eine Gruppe Pappeln in einer bestimmten Anordnung auf einem Hügel, und ich denke: Viel-leicht ist es das! Ich hab’s gefunden! Das ist Hailsham! Dann erkenne ich, dass es ein Irrtum war, und fahre weiter, und meine Gedanken schweifen ab. Vor allem diese Pavillons, die ich überall im Land entde-cke: Sie stehen am Rand eines Sportplatzes, kleine weiße Fertigteilgebäude mit einer Reihe Fen-ster unnatürlich hoch oben, fast schon unter dem Dachgesims. Ich glaube, in den Fünfzigern und Sechzigern wurden sehr viele solcher Containergebäude aufgestellt, wahrscheinlich stammte auch unser Pavillon aus dieser Zeit. Wenn ich an einem vorbeikomme, schaue ich so lange wie möglich zu ihm hinü-ber; auf diese Weise werde ich noch das Auto zu Schrott fahren, aber ich kann nicht anders. Unlängst fuhr ich durch eine menschenleere Gegend in Worcestershire und entdeckte einen Pavillon am Rand eines Kricketfelds, der unserem Pavillon in Hailsham so ähnlich war, dass ich wendete und umkehrte, um ihn mir aus der Nähe anzusehen. Wir liebten unseren Sportplatz-Pavillon, vielleicht weil er uns an die hübschen kleinen Cottages aus den Bilderbüchern unserer Kindheit erinnerte. In den JuniorKlassen bestürmten wir immer wieder die Aufseher, die nächste Stunde nicht im normalen Klassenzimmer, sondern im Pavillon abzuhalten. Als wir dann in Senior 2 waren – und zwölf, fast dreizehn Jahre alt –, wurde er unsere Zufluchtstätte, in der man mit den besten Freundinnen verschwand, wenn man sich von den anderen absondern wollte.
Der Pavillon war groß genug, dass sich zwei separate Gruppen darin aufhalten konnten, ohne sich gegenseitig in die Quere zu kommen, und im Sommer war draußen auf der Veranda noch Platz für eine dritte Gruppe. Natürlich wollte ihn jede Gruppe am liebsten für sich allein haben, und deshalb gab es immer Gerangel und Streit. Die Aufseher ermahnten uns unablässig zu anständigem Verhalten, aber das änderte nichts daran, dass man einiger starker Persönlichkeiten in seiner Gruppe bedurfte, um überhaupt eine Chance zu haben, den Pavillon in einer Pause oder Freistunde zu bekommen. Ich war selbst nicht gerade zimperlich, aber dass wir ihn so oft bekamen, hatten wir, glaube ich, vor allem Ruth zu verdanken.
Normalerweise verteilten wir uns einfach auf den Bänken und Stühlen – wir waren zu fünft, zu sechst, wenn Jenny B. mitkam – und schwatzten drauflos. Solche Gespräche waren nur hier im Schutz dieses Gebäudes möglich; manchmal redeten wir über Dinge, die uns Sorgen bereiteten, oder wir fingen an, vor Lachen zu kreischen, dann wieder endete es mit einem handfesten Krach. Vor allem war es eine Gelegenheit, einfach eine Zeit lang abzuschalten, gemeinsam mit den engsten Freundinnen.
An dem Nachmittag, den ich jetzt vor Augen habe, drängten wir uns stehend auf Hockern und Bänken vor den hohen Fenstern. Von hier aus hatten wir eine gute Sicht auf den nördlichen Sportplatz, wo sich etwa ein Dutzend Jungen aus unserem Jahrgang und Senior 3 zum Fußball getroffen hatten. Es herrschte strahlender Sonnenschein, doch kurz zuvor muss es geregnet haben, denn ich weiß noch, wie es blitzte und funkelte im nassen Gras.
Jemand meinte, wir sollten nicht so auffällig schauen, aber niemand wich von den Fenstern zurück.