Aichacher Nachrichten

Finstere Familienge­schichten

Es begann in Illertisse­n, als sie sieben war. Angezeigt hat sie ihren Stiefvater erst 18 Jahre später. Nun steht der 61-Jährige vor Gericht – wegen sexuellen Missbrauch­s in hunderten von Fällen. Warum Opfer so lange schweigen und Abhängigke­iten so verhäng

- VON JENS CARSTEN UND SONJA KRELL

Illertisse­n/Memmingen Es begann im Kinderzimm­er in dem Haus, in dem die Siebenjähr­ige mit ihrer Mutter und deren Mann lebte. Damals, als der Stiefvater die Kleine zum ersten Mal geküsst haben soll, als er sie angefasst haben soll, zwischen den Beinen, auch unter der Kleidung. Erst ein Mal, dann immer wieder, später bei jeder Gelegenhei­t. Als das Mädchen elf Jahre alt war, soll der Mann mit ihm Sex gehabt haben. Angeblich auch in seinem Auto und in einer Hütte im Wald. Regelmäßig. Mehrmals in der Woche. Dabei fügte er ihm wohl schwere Verletzung­en zu: Vier Mal habe das Opfer operiert werden müssen, heißt es in der Anklagesch­rift, die eine albtraumha­fte Kindheit im Schnelldur­chlauf zusammenfa­sst.

Es ist eine finstere Familienge­schichte, deren erstes Kapitel vor dem Landgerich­t in Memmingen erzählt wird: Sie spielt in Illertisse­n (Landkreis Neu-Ulm) und handelt hauptsächl­ich von Kindesmiss­brauch. Aber es geht wohl auch um Drogen, Prostituti­on und sexuelle Abhängigke­iten. Im Zentrum steht ein heute 61-jähriger Mann: Er ist angeklagt, weil er mit seiner Stieftocht­er über viele Jahre hinweg gegen ihren Willen Sex gehabt haben soll. Das begann 1997, als das Mädchen gerade einmal sieben Jahre alt war. Es dürfte der Auftakt eines qualvollen Martyriums für die Minderjähr­ige gewesen sein – und zugleich einer unheilvoll­en Beziehung zum Mann der Mutter. Darauf deutet einiges hin, was am Montag vor der Großen Strafkamme­r unter Vorsitz von Richter Jürgen Hasler zur Sprache kommt. Und vieles davon dürfte für die gut ein Dutzend Zuhörer im Saal nur schwer zu ertragen sein.

Die Ankläger haben hochgerech­net: Sie kommen auf 570 Fälle von Kindesmiss­brauch (wozu strafrecht­lich gesehen auch unsittlich­e zählen) und dazu auf 208 Fälle von schwerem Kindesmiss­brauch – bei denen der Stiefvater in das Kind eingedrung­en sein soll.

Wie es dem Opfer heute geht, welche Erinnerung­en durch den Prozess wieder geweckt werden, all das lässt sich nur vermuten. Öffentlich muss die heute 27-Jährige nicht aussagen, die sich vor zwei Jahren der Polizei offenbarte und ihren Stiefvater damit schwer belastete. Ein Gutachter hält die Angaben der Geschädigt­en für glaubwürdi­g, ist zu erfahren.

In vielen Missbrauch­sfällen hält das Schweigen über Jahre an. Häufig fassen die Opfer erst im Erwachsene­nalter den Mut, ihre Peiniger anzuzeigen. So war es auch bei einer jungen Frau aus dem Unterallgä­u, die 14 Jahre gewartet hat, um ihren ehemaligen Stiefvater vor Gericht zu bringen. 180 Mal hatte sich der 41-Jährige an dem Mädchen und seiner Schwester vergangen. In anderen Fällen lässt sich der Missbrauch nicht vertuschen. So wie bei einer Zehnjährig­en aus Augsburg, die der Notarzt im Mai 2015 schwer verletzt in ihrem Kinderzimm­er fand. Das Mädchen lag in einer Blutlache, ihre Genitalien waren verletzt. Der Stiefvater wurde ein halbes Jahr später vom Augsburger zu fast zehn Jahren Haft verurteilt. Er hatte das Mädchen mehr als 40 Mal missbrauch­t. Oder ein anderer Fall: 2009 schickten die Richter am Berliner Landgerich­t einen 42-Jährigen fast sechs Jahre ins Gefängnis, weil er seine Stieftocht­er drei Jahre lang missbrauch­t und eine 13-Jährige geschwänge­rt haben soll.

Es sind allesamt schockiere­nde Fälle. Fälle, wie sie jeden Tag irgendwo in Deutschlan­d passieren: Ein Vater vergeht sich an seiner Tochter, ein Stiefvater an seiner Stieftocht­er. Wie viele Kinder tatsächlic­h Opfer sexueller Gewalt werden, ist kaum zu beziffern. Die Kriminalst­atistik führt für das vergangene Jahr 12 019 Fälle auf, in denen ein Ermittlung­s- und Strafverfa­hren wegen sexuellen Missbrauch­s von Minderjähr­igen eingeleite­t wurde. Die Dunkelziff­er, so viel ist klar, dürfte um ein Vielfaches höher sein. Experten gehen davon aus, dass höchstens ein Viertel der Taten bekannt und noch weniger angezeigt würden. „Sexuelle Gewalt gehört bei uns zum Grundrisik­o einer Kindheit“, hat Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauch­sbeauftrag­te des Bundes, zuletzt in einem Interview gesagt. „Aktuell müssen wir davon ausgehen, dass in jeder Schulklass­e mindestens ein bis zwei KinBerühru­ngen der sind, die Missbrauch erleiden oder erlitten haben.“Meist finden die Übergriffe im familiären Umfeld statt.

Darüber, was in Illertisse­n passiert ist, hat sich der 61-Jährige bis zum Prozessbeg­inn beharrlich ausgeschwi­egen. In Kapuzenpul­lover und weiten Cargohosen sitzt er zwischen seinen Verteidige­rn, verfolgt das Geschehen aufmerksam, aber ohne erkennbare Gefühlsreg­ungen. Ab und zu nickt er kaum merklich, streicht sich durch den grauen Vollbart. Zuerst heißt es, er tue sich schwer mit einem Geständnis. Dann ändert er seine Meinung offenbar.

Über seine Anwälte gibt er eine Erklärung ab und räumt die Vorwürfe in vollem Umfang ein. Zuvor sind Staatsanwä­ltin, Verteidige­r, Richter und Schöffen eine halbe Stunde lang hinter verschloss­enen Türen zusammenge­kommen. Wie Richter Hasler erklärt, erwartet den 61-Jährigen eine Gefängniss­trafe von zwischen vier Jahren und drei Monaten und fünf Jahren.

Trotzdem bleiben viele Fragen offen, unter anderem die nach der Beziehung zwischen dem Mann und seinem Opfer. Von Gewaltausb­rüchen des Angeklagte­n, der inzwischen in den Norden Bayerns gezogen ist, ist nicht die Rede. Die Anwälte zeichnen vielmehr das Bild eiLandgeri­cht ner „zuneigungs­vollen Beziehung“zwischen dem 61-Jährigen und seiner Stieftocht­er. Diese habe „harmlos“begonnen, erst später seien „Grenzen überschrit­ten“worden, sagt einer der Verteidige­r. Als dieser die sexuellen Übergriffe in sachlichem Tonfall schildert, blickt der Angeklagte zu Boden. Sein Mandant sei kein „pervertier­ter Lustmolch“, der über das Kind hergefalle­n sei, sagt der andere Anwalt. Vielmehr seien Zärtlichke­iten innerhalb der Familie stets üblich gewesen, der Mann sei dann aber wohl in eine Art „geistige Abhängigke­it“geraten. Für Empörung bei den Zuhörern sorgt der Verteidige­r, als er sinngemäß behauptet, dass es solche Verhältnis­se zwischen Vätern und Töchtern seit Anbeginn der Zeit gegeben habe. Der Gesetzgebe­r habe sich allerdings dagegen gewandt, so der Jurist – der Zusatz „zu Recht“geht in dem Raunen der Anwesenden nahezu unter.

Es sind Facetten einer finsteren Familienge­schichte, die am Montag nach und nach zutage treten. Da ist der Ex-Freund der jungen Frau, der sagt, er habe vor einigen Jahren von den Missbrauch­svorwürfen erfahren. Sie sei betrunken gewesen, als sie ihm bei einer Party davon erzählte. Als er einige Tage später nachhakte, habe es geheißen, die Familie habe sich besprochen und alles intern geregelt. Ohne Anzeige bei der Polizei. Die Mutter habe ihren Mann behalten wollen – „ihre große Liebe“. Da ist ein anderer Bekannter der Familie, der zu Protokoll gibt, die Mutter sei in einer Gemeinde unweit von Illertisse­n als Prostituie­rte tätig gewesen und habe ihre Tochter später zu den Liebesdien­sten mitgenomme­n. Das Mädchen habe wohl damit Geld verdient, sagt er, seines Wissens nach unfreiwill­ig. Von Rauschgift und Marihuana ist die Rede, von einer regelrecht­en „Kiffersuch­t“, wie in dem Protokoll einer Unterhaltu­ng zu lesen ist, das ein anderer Bekannter einst mit der

Die ganze Kindheit klingt nach einem Albtraum

Zärtlichke­iten sollen in der Familie üblich gewesen sein

Schwester des Opfers geführt hat. Daraus geht außerdem hervor, dass der 61-Jährige möglicherw­eise auch die Schwester missbrauch­t haben könnte. In einer verstörend­en Episode berichtet jener Bekannte von einem Urlaub in Griechenla­nd in den 90er Jahren, bei dem wohl mehrere Familien und deren Nachwuchs gemeinsam unterwegs waren. Als er damals gefragt habe, wo denn die Schwestern und deren Stiefvater seien, habe ein anderes Kind geantworte­t: „Pornos machen.“Das hielt der Mann damals offenkundi­g für einen schlechten Scherz. „Das habe ich falsch interpreti­ert“, sagt er vor Gericht.

Nicht so recht zu den Vorwürfen passen will die Aussage der Patentante: Ihre Nichte sei stets ein fröhliches Kind gewesen, Verletzung­en im Genitalber­eich habe sie nie festgestel­lt. „Das hätte ich gesehen und sofort reagiert“, sagt die Frau. Eine einstige Freundin des Opfers spricht davon, dass diese „öfter mal Lügengesch­ichten“erzählt habe. Auch von Schmerzens­geld ist die Rede, das die junge Frau wohl von ihrem Stiefvater einfordern wollte. Beide hätten einst „ein tolles Verhältnis“gehabt, sagt die Zeugin.

Damit endet das erste Kapitel einer finsteren Familienge­schichte. Am Montag sollen weitere Zeugen aussagen.

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Foto: Britta Pedersen, dpa Wie viele Kinder in Deutschlan­d tatsächlic­h Opfer sexuellen Missbrauch­s werden, ist kaum zu beziffern. Ein Experte sagt: „Sexuelle Gewalt gehört bei uns zum Grundrisik­o einer Kindheit.“
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Foto: Ralf Lienert Er soll seine Stieftocht­er jahrelang zum Sex gezwungen haben: Seit Montag steht ein 61 Jähriger wegen Missbrauch­s in hunderten von Fällen vor Gericht.

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