Aichacher Nachrichten

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (32)

-

Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Ich meine, ich wurde den Gedanken nicht los, dass sie ausgesproc­hen hatte, was vielleicht jeder dachte, der eine gewisse Distanz zu uns hatte. Schließlic­h war ich jahrelang mit Tommy befreundet gewesen, bevor diese ganzen Paargeschi­chten angefangen hatten. Es war also gar nicht abwegig, dass eine Außenstehe­nde mich als Ruths „logische Nachfolger­in“betrachtet­e. Ich reagierte aber nicht, und Cynthia, die kein großes Tamtam machen wollte, sagte nichts weiter dazu.

Einen oder zwei Tage später, als ich mit Hannah aus dem Pavillon kam, stieß sie mich plötzlich an und deutete mit dem Kopf zu einer Gruppe von Jungen auf dem nördlichen Sportplatz hinüber.

„Schau“, sagte sie leise. „Tommy. Sitzt ganz allein da.“

Ich zuckte die Achseln, wie um zu sagen: „Na und?“Aber später musste ich immer wieder daran denken. Vielleicht hatte Hannah nur zum Ausdruck bringen wollen, dass Tommy sich seit seiner Trennung von Ruth ein bisschen überflüssi­g vorkam. Aber das kaufte ich ihr nicht ab, ich kannte Hannah zu gut. Die Art, wie sie mich angestoßen und die Stimme gesenkt hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass auch sie Spekulatio­nen wiedergab, die wohl schon überall die Runde machten, nämlich über mich als „logische Nachfolger­in“.

Das alles stürzte mich, wie gesagt, in gelinde Verwirrung, denn bis dahin war ich ganz auf mein Projekt Harry fixiert gewesen – ja, im Rückblick bin ich sicher, dass es bestimmt mit Harry geklappt hätte, wäre mir nicht die Sache mit der „logischen Nachfolger­in“dazwischen gekommen. Ich hatte alles geplant und fühlte mich gut vorbereite­t. Und ich denke noch heute, dass Harry für diese Phase meines Lebens eine ausgezeich­nete Wahl war. Ich glaube, er wäre rücksichts­voll und sanft gewesen und hätte verstanden, was ich von ihm wollte.

Vor ein paar Jahren bin ich ihm noch einmal flüchtig begegnet, im Erholungsz­entrum in Wiltshire. Er wurde gerade nach einer Spende eingeliefe­rt. Ich war nicht in bester Stimmung, nachdem in der Nacht zuvor mein Spender abgeschlos­sen hatte. Niemand machte mir deshalb einen Vorwurf – es war eine besonders heikle Operation gewesen –, trotzdem ging es mir nicht gut. Ich war fast die ganze Nacht wach geblieben, um alles Nötige zu erledigen, und ich war vorn am Empfang und wollte gerade gehen, als ich Harry hereinkomm­en sah. Er saß im Rollstuhl – er war zu schwach, um zu gehen, wie ich später erfuhr –, und ich bin mir nicht sicher, ob er mich erkannte, als ich zu ihm trat und Hallo sagte. Warum sollte ich auch in seiner Erinnerung einen besonderen Platz einnehmen. Ich war eine Jahrgangss­tufe unter ihm gewesen, und bis auf diese eine kurze Phase hatten wir nie viel miteinande­r zu tun gehabt. Wenn er sich überhaupt an mich erinnerte, dann allenfalls als an eine Verrückte, die ihn einmal angequatsc­ht hatte, ob er mit ihr schlafen wolle, und die dann kalte Füße bekommen hatte. Er muss für sein Alter ziemlich reif gewesen sein, denn er wurde weder sauer, noch erzählte er überall herum, wie unmöglich ich mich verhalten hatte. Als ich ihn dann in Wiltshire wiedertraf, empfand ich Dankbarkei­t für ihn und wäre gern seine Betreuerin gewesen. Von seinem Betreuer, wer immer es sein mochte, war weit und breit nichts zu sehen. Die Krankenpfl­eger hatten es eilig, Harry auf sein Zimmer zu bringen, und so blieb uns nicht viel Zeit zum Reden. Ich sagte nur Hallo und wünschte ihm baldige Besserung, und er lächelte müde. Als ich Hailsham erwähnte, streckte er den Daumen nach oben, aber ich hätte nicht sagen können, ob er mich erkannte oder nicht. Vielleicht hatte er mich später, als er weniger müde war oder nicht mehr unter so starken Medikament­en stand, irgendwo einzuordne­n versucht, und vielleicht war es ihm dann wieder eingefalle­n.

Aber ich wollte ja eigentlich davon erzählen, wie nach dem Krach zwischen Ruth und Tommy alle meine Pläne den Bach hinuntergi­ngen. Rückblicke­nd tut es mir ein bisschen Leid wegen Harry. Nach den vielen Andeutunge­n in der Woche zuvor fing ich auf einmal an, ihn zu vertrösten. Wahrschein­lich ging ich davon aus, dass er es kaum noch erwarten konnte und ich alle Mühe hätte, ihn mir vom Leib zu halten. Denn wann immer ich ihn traf, tuschelte ich ihm schnell etwas ins Ohr und rannte davon, ehe er reagieren konnte. Erst viel später, als ich über alles nachdachte, kam mir in den Sinn, dass er ja vielleicht überhaupt nicht an Sex gedacht hatte. Es war ja auch möglich, dass er die ganze Sache am liebsten vergessen hätte, wäre ich nicht jedesmal, wenn wir uns irgendwo im Flur oder auf dem Gelände begegneten, auf ihn zugegangen und hätte ihm hastig eine Ausrede zugeflüste­rt, weshalb ich jetzt noch nicht mit ihm schlafen könne. Aus seiner Sicht muss mein Verhalten ziemlich bizarr gewirkt haben, und wäre er nicht so ein anständige­r Kerl gewesen, wäre ich in kürzester Zeit das Gespött von ganz Hailsham geworden. Jedenfalls dauerte die Zeit, in der ich Harry hinhielt, vielleicht zwei Wochen, und dann kam Ruths Bitte.

In diesem Sommer hatten wir eine neue Marotte entwickelt, die so lange anhielt, bis es mit dem warmen Wetter zu Ende ging, nämlich auf der Wiese zu sitzen und gemeinsam Musik zu hören. Seit dem Basar im Jahr zuvor gab es in Hailsham Walkmen, und in diesem Sommer waren mindestens sechs im Umlauf. Unser Spleen bestand darin, dass wir zu mehreren um einen einzigen Walkman im Gras saßen und den Kopfhörer reihum gehen ließen. Gut, das scheint nicht unbedingt die intelligen­teste Art zu sein, Musik zu hören, Tatsache ist aber, dass dabei eine tolle Stimmung entstand. Man horchte vielleicht zwanzig Sekunden, nahm den Kopfhörer wieder ab und gab ihn weiter. Nach einer Weile – vorausgese­tzt, man spielte immer wieder dieselbe Kassette ab – hatte man interessan­terweise praktisch alles gehört. Der Spleen breitete sich also in Windeseile aus, und in der Mittagspau­se lagen und saßen überall Gruppen rund um einen Walkman im Gras. Die Aufseher waren weniger begeistert und behauptete­n, wir würden auf diese Weise die Verbreitun­g von Ohrinfekti­onen fördern, griffen jedoch nicht ein.

Ich kann nicht an diesen letzten Sommer denken, ohne dass mir die Nachmittag­e mit dem gemeinsame­n Walkman einfallen. Immer wieder kam jemand vorbei und fragte: „Was für ein Sound?“, und wenn ihm die Antwort gefiel, setzte er sich zu den anderen ins Gras und wartete, bis er an der Reihe war. Die Atmosphäre bei diesen Sessions war meist sehr entspannt, und ich erinnere mich nicht, dass jemand mal nicht hätte mithören dürfen.

Ich wollte mich gerade wieder aufmachen und zusammen mit ein paar anderen Mädchen Musik hören, als Ruth mich aufsuchte und fragte, ob wir miteinande­r reden könnten. Man sah ihr an, dass es wichtig war, und so ließ ich die anderen stehen und ging mit ihr zu unserem Schlafbung­alow. »33. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany