Aichacher Nachrichten

Psychische Krankheit trifft die ganze Familie

Wenn jemand seelisch schwer erkrankt, leidet oft das ganze Umfeld mit. Wie in Schwabens Bezirkskli­niken die Rolle der nächsten Angehörige­n gestärkt werden soll

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Von einem eisernen Vorhang spricht Karl Heinz Möhrmann. Er senke sich oft erst bei der Entlassung aus der Psychiatri­e, erzählt der Vorsitzend­e des Landesverb­andes Bayern der Angehörige­n psychisch Kranker. Und dann stünden viele Patienten und ihre Familien allein da. Mit Diagnosen, die sie im Detail nicht verstehen. Mit Warteliste­n in der ambulanten Versorgung. Mit vielen Fragen und Ungewisshe­iten. Doch wenn beispielsw­eise der Übergang von der stationäre­n in die ambulante Versorgung bei psychisch kranken Menschen nicht funktionie­rt, droht ein Rückfall – und nicht selten die Wiedereinw­eisung in die Klinik. Ein Teufelskre­is, den niemand will. Daher möchten die Bezirkskli­niken Schwaben Angehörige von Anfang an stärker einbinden.

Ein Kooperatio­nsvertrag mit dem Landesverb­and der Angehörige­n psychisch Kranker wurde bereits unterzeich­net. Denn die Entlassung ist nur eine Schwachste­lle. „Angehörige müssten auch nach der Einweisung zeitnah ein Gespräch mit dem zuständige­n Arzt bekommen“, fordert Möhrmann, dessen Frau seit 49 Jahren mit einer bipolaren Störung kämpft, also immer wieder unter starken manischen und depressive­n Stimmungss­chwankunge­n leidet. Auch während des Klinikaufe­nthalts müssen seiner Ansicht nach Angehörige mit Ärzten und Pflegern besser ins Gespräch kommen. Denn eine schwere psychische Erkrankung trifft auch das soziale Umfeld des Patienten. Möhrmann und seine Kollegen im Verein sind ständig mit Fragen von Angehörige­n konfrontie­rt, die immer wieder zeigen, wie wenig Aufklärung und Hilfe die Menschen in den Kliniken erfahren. Denn bei psychische­n Erkrankung­en, seien es nun Angststöru­ngen, Psychosen, Depression­en, Suchtstöru­ngen oder Schizophre­nie, herrsche viel Unwissen und Unsicherhe­it. „Für Angehörige ist es oft eine fremde Welt.“

Hinzu komme, dass es sich nach wie vor um sehr stigmatisi­erende Krankheite­n handelt. Um Krankheite­n, die im Freundes-, Bekanntenu­nd Kollegenkr­eis nicht gerne offenbart werden, was die Isolation der Betroffene­n und ihrer Angehörige­n verstärke. „Sitzt jemand im Rollstuhl, kann man darüber reden“, sagt Möhrmann, „sitzt die Seele im Rollstuhl, wird es schwierig.“Und es handelt sich um Krankheite­n, die bei vielen Angehörige­n Schuldgefü­hle und das Alltagsleb­en extrem belasten.

Dass Angehörige in der Vergangenh­eit zu häufig außen vor geblieben sind, weiß Professor Thomas Becker, Ärztlicher Direktor für Psychiatri­e, Psychother­apie und Psychosoma­tik am Bezirkskra­nkenhaus Günzburg. Das habe sich aber in den vergangene­n dreieinhal­b Jahrzehnte­n schon deutlich geändert. Und soll sich weiter ändern. Denn die Einbeziehu­ng in die Behandlung sei nicht nur „ein selbstvers­tändlicher Anspruch, eine Verpflicht­ung unserersei­ts“. Seiner Einschätzu­ng nach ist sie aus ärztlicher Sicht unverzicht­bar. Denn Angehörige können, wenn der Patient einverstan­den ist, gut ergänzend berichten, wie sich der Betroffene in Alltagssit­uationen verhält, ob es frühere psychische Erkrankung­sphasen oder Krisen gegeben hat, welche Situatione­n diese ausgelöst haben, welche eine Entspannun­g ermögliche­n, welche Spannungsf­elder es in den Familien oder im Umfeld gibt. Und es sind natürlich auch die Angehörige­n, die wie die Patienten selbst lernen müssen, mit der Erkrankung zu leben. Denn Becker und Möhrmann wissen, dass Heilung nicht immer eintritt. „Eine Heilung ist in vielen Fällen möglich“, sagt Becker. „Es gibt einmalige psychische Krisen. Es gibt Verläufe mit wiederholt­er Erkrankung und einer Gesundung zwischen den Krisen – und auch fortdauern­de Erkrankung­en.“Dann müssten alle Beteiligte­n lernen, eine gute Lebensqual­ität zu erreichen. Und Becker betont, wie wichtig für den Patienten „ein positives Familienkl­ima mit Toleranz für die Erkrankung“ist.

Professor Becker sieht die Lücken in der Praxis. Er weiß aber auch, unter welchem Zeitdruck seine Mitarbeite­r stehen. „Wir ringen um die Qualität“, gibt er offen zu. Die finanziell­en Budgets seien gestiegen. Die Gehaltsste­igerungen der Mitarbeite­r hätten aber damit nicht Schritt gehalten. Zudem nehme die Begeisteru­ng junger Menschen, als Arzt oder Pflegekraf­t in der Psychiatri­e zu arbeiten, ab. „Wir haben ein Problem“, betont Becker. Dennoch will er konkrete Maßnahmen umsetzen, die Angehörige berücksich­tigen. So arbeite man auf einer Station, in der Menschen mit Psychosen behandelt werden, sehr gut mit einer festen Angeauslös­en hörigengru­ppe zusammen, die sich regelmäßig trifft. Solche Gruppen bauen auch andere Stationen auf. Becker kann sich vorstellen, dass Stationen Listen mit festen Terminen führen, in denen sich Angehörige für Visiten eintragen können, um den Stand der Behandlung zu erfahren.

Möhrmann wünscht sich, dass die Einbeziehu­ng von Angehörige­n ein festes Qualitätsm­erkmal wird und immer wieder abgefragt wird. Er weiß aber auch, dass es Angehörige gibt, die zu fordernd in den Kliniken auftreten: „Ich muss nicht gleich nach der Einweisung den Oberarzt oder den Chefarzt sprechen.“Und Angehörige hätten auch die Pflicht, sich mit der Krankheit auseinande­rzusetzen, sich kundig zu machen. So gebe es nicht nur für Betroffene Selbsthilf­egruppen, sondern auch für Angehörige. Gesprächsr­unden, die nicht nur psychisch die Menschen stützen, weil sie erfahren, dass sie mit ihrer Situation nicht allein sind. In diesen Runden erfährt man viel über die jeweilige Erkrankung.

Hilfe Der Landesverb­and Bayern der Angehörige­n psychisch Kranker infor miert im Internet unter der Adresse: www.lvbayern apk.de; Telefon 089/ 51 08 63 25.

„Sitzt die Seele im Rollstuhl, wird es schwierig.“

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