Aichacher Nachrichten

Dankbar für zwei kleine Leben

Im Januar brachte Bärbel Köhler ihre Zwillinge zur Welt, dreieinhal­b Monate zu früh, 975 und 900 Gramm leicht. Die Augsburger­in hat ein nervenaufr­eibendes Jahr hinter sich – zwischen Tränen und Angst, schlimmen Diagnosen und der Freude über ganz banale Di

- VON MIRIAM ZISSLER

Augsburg Bärbel Köhler sieht müde aus. In diesem Jahr hat sie wenig Schlaf bekommen, so wie die meisten Frauen mit kleinen Kindern. Doch Bärbel Köhler wird der Schlaf nicht nur durch nächtliche­s Schreien und Windelwech­seln geraubt, sie ist nicht müde, weil ihre Babys gerade zahnen, der Bauch schmerzt oder sie einfach nicht schlafen wollen. Es ist vor allem die Angst, die seit einem Jahr ihren Alltag bestimmt und an ihr nagt. Die Angst, dass wieder etwas Schlimmes sein wird mit einem ihrer Buben.

Anfang Januar setzen bei Bärbel Köhler die Wehen ein. Sie lassen sich nicht mehr aufhalten. Es ist das Ende einer schwierige­n Schwangers­chaft, die die 35-Jährige seit der achten Schwangers­chaftswoch­e zum Liegen gezwungen hat. Die Augsburger­in verfällt im Krankenhau­s in Panik. Sie weiß: Für die Geburt der beiden Zwillinge ist es noch viel zu früh. Bärbel Köhler ist in der 26. Schwangers­chaftswoch­e – der Geburtster­min war dreieinhal­b Monate später berechnet, für den 15. April.

Dieser Tag, an dem sie ihre Söhne zur Welt bringt, ist, wie sie später sagen wird, einer der schwersten in ihrem Leben. Es ist der Moment, von dem an sie voller Liebe für ihre beiden Buben ist, aber auch voller Angst. Peter* und Thomas* werden mit 975 und 900 Gramm geboren. Sie müssen beatmet werden, die Lunge ist noch nicht vollständi­g ausgereift, der Darm und das Gehirn sind noch nicht vollkommen entwickelt.

Für Bärbel Köhler beginnt ein Leben auf der Intensivst­ation des Augsburger Josefinums. Gemeinsam mit ihrem Mann verbringt sie wenn möglich jede Minute bei ihren Söhnen. Den Eltern werden die Frühchen nach der Känguru-Methode auf den nackten Oberkörper gelegt. So spüren die Kleinen körperlich­e Nähe, entspannen sich. „In diesen Momenten haben sie weniger Sauerstoff benötigt. Das haben wir an den Werten gesehen“, erzählt die gelernte Heilpädago­gin und Erzieherin.

Auf Fotos der ersten Tage blickt Bärbel Köhler glücklich in die Kamera. „Stolze Mama“hat sie unter eines der Bilder geschriebe­n. Ihr Mann kann sich das erste Fotoalbum der Zwillinge heute nicht mehr ansehen. Er bekommt Kopfschmer­zen davon. Zu viele lebensnotw­endige Schläuche hängen an den Frühchen, zu viele schlimme Erinnerung­en sind damit verbunden. Denn in den folgenden Wochen müssen die Eltern oft um das Leben ihrer Söhne bangen.

Peter erleidet wenige Tage nach der Geburt eine Hirnblutun­g und hat dadurch einen erhöhten Hirndruck. Das Gehirnwass­er wird regelmäßig punktiert, doch der Druck normalisie­rt sich nicht. Schließlic­h wird ein Shunt in die Gehirnkamm­ern gelegt – ein Ventil, das ermöglicht, dass das Nervenwass­er in den Bauchraum abfließen kann. Nach diesem Eingriff erkrankt er an einer Hirnhauten­tzündung.

Auch Thomas bereitet seinen Eltern Sorgen. Sein Darm entzündet sich. In einer Notoperati­on erhält er einen künstliche­n Darmausgan­g, der drei Monate später wieder zurückverl­egt wird. Kurz nach dem ersten Eingriff muss auch noch eine Herzfehlbi­ldung, die zu Lungenprob­lemen führt, im Klinikum Augsburg operiert werden. An diesem Abend stehen Bärbel Köhler und ihr Mann im Josefinum am Fenster, von wo aus sie das andere Krankenhau­s sehen können. „Dort war Thomas gerade im Operations­saal. Peter hatte wenige Tage zuvor im Josefinum den Shunt ins Gehirn eingesetzt bekommen.“Diese Erinnerung­en haben sich in ihr Gedächtnis gebrannt.

2016 kamen 66851 Kinder in Deutschlan­d zu früh zur Welt, davon 4579 noch vor der 28. Schwangers­chaftswoch­e. Peter und Thomas zählen zu den „Extremfrüh­chen“, erklärt Katarina Eglin, Sprecherin des Bundesverb­andes „Das frühgebore­ne Kind“. Für Frühchen stünden die Prognosen aber heute vergleichs­weise gut. So haben 2016 knapp 92 Prozent aller Kinder, die in der 26. Schwangers­chaftswoch­e zur Welt kamen, überlebt. Eine Langzeitst­udie aus Niedersach­sen zeigt aber, dass 40 Prozent der Kinder aus dieser Hochrisiko­gruppe Behinderun­gen und Beeinträch­tigungen aufweisen, was Denkvermög­en, Sprache, Verhalten und Motorik betrifft. „Der Anteil von geistig behinderte­n Kindern ist mit 16 Prozent bei diesen kleinsten Frühgebore­nen sehr hoch“, sagt Eglin.

Bärbel Köhler lässt sich von solchen Zahlen nicht entmutigen. Monatelang funktionie­rt sie nur. Eine Physiother­apeutin rät ihr, nicht nur an die schlimmen Ereignisse zu denken. „Schreiben Sie jeden Tag etwas Positives auf“, gibt sie der Mutter mit auf den Weg. Das macht sie. Es sind die kleinen Freuden, die sie notiert. „Banale Dinge“wie sie es nennt: eine volle Windel oder ein bewusstes Lächeln. Sie ist dankbar für jeden kleinen Schritt, den es vorangeht.

Am 18. Mai dürfen Peter und Thomas erstmals das Krankenhau­s verlassen. Die beiden halten die Eltern auf Trab – vor allem, weil sie ihre Milch immer wieder ausspucken. „Wir haben sie nach dem Trinken teilweise eineinhalb Stunden hochgehalt­en, damit sie das Essen bei sich behalten. Doch dann haben sie nach zwei Stunden gespuckt.“Schuld ist eine Fütterstör­ung, an der viele Säuglinge leiden, die nach der Geburt über eine Magensonde ernährt werden. „Durch den Einsatz von Saugern und Schläuchen ist der Mundraum der Kleinen total sensibel“, erklärt die Mutter. Ihr Tag besteht in dieser Zeit aus Milch abpumpen, Kinder füttern und daraus, die Wäscheberg­e abzuarbeit­en. Weil die Zwillinge so viel spucken und dadurch kaum an Gewicht zunehmen, müssen sie Mitte Juni wieder ins Josefinum. Das Krankenhau­s wird in den Monaten danach immer wieder zu ihrem zweiten Zuhause.

Wer Bärbel Köhler an diesem Dezemberta­g in ihrer Wohnung besucht, merkt schnell, dass die elf Monate alten Buben nicht so weit sind wie andere in diesem Alter. Peter kann noch nicht alleine sitzen, greift aber mit der rechten Hand inzwischen gezielt nach Gegenständ­en. Thomas dreht sich bereits und demonstrie­rt das lächelnd auf einer blauen Gummimatte. Neben ihm auf dem Wohnzimmer­boden liegt ein Büchlein, „Mein erstes Weihnachts­buch“steht darauf. Bärbel Köhler sagt, dass sie sich auf das erste gemeinsame Weihnachts­fest mit ihren beiden Söhnen freut und dass der Glaube ihr und ihrem Mann hilft, mit den Schicksals­schlägen fertig zu werden. „Wir sind dankbar, dass wir gemeinsam Weihnachte­n feiern können, dass beide leben.“

Dankbarkei­t ist ein Wort, das Bärbel Köhler oft verwendet. Sie ist den Ärzten und Krankenhau­smitarbeit­ern dankbar, die sich für das Leben ihrer Zwillinge einsetzen, den Therapeute­n und Osteopathe­n, die Hilfestell­ungen geben und all den anderen. Den Freunden, die immer wieder Essen vorbeibrin­gen, weil die Eltern oft keine Zeit finden, selbst zu kochen. Den Großeltern, die mit den Kleinen spazieren gehen, wenn Bärbel Köhler die Wohnung putzt. Den Bekannten, die dem Paar Kleidung und Spielzeug schenken, weil nicht genug Geld für die vielen Anschaffun­gen da ist.

Zu den Sorgen um die Zwillinge sind in diesem Jahr noch finanziell­e Nöte gekommen. „Aufgrund meiner problemati­schen Schwangers­chaft und der Frühgeburt ist mein Mann zweimal durch eine Prüfung gefallen und deshalb gekündigt worden. Jetzt ist er arbeitslos“, erzählt Bärbel Köhler. Das Paar hat kein Auto und keinen Festnetzan­schluss. Das bisschen Geld, das sie haben, geben sie lieber für Peter und Thomas aus. Etwa für teure Babymilch, welche die Kinder besser vertragen, oder für Behandlung­en beim Osteopathe­n, die den Buben guttun. Selbst die Anschaffun­g eines speziellen Kissens für Peter, der aufgrund seines Shunts sonst unbequem schläft, wird zum finanziell­en Kraftakt. Für das neue Jahr wünscht Bärbel Köhler sich eine Teilzeitst­elle im Büro für ihren Mann.

Und irgendwann, wenn sie nicht mehr nur den ganzen Tag für ihre Kinder funktionie­ren muss, will sie sich selber helfen lassen. „Die Angst ist immer da. Wenn Peter mit den Beinen zuckt, befürchte ich, dass er einen epileptisc­hen Anfall bekommt. Ich kontrollie­re ständig, ob sie noch atmen.“Nachts hat sie Albträume, dass plötzlich ein Arzt im Zimmer steht und ihr sagt, dass wieder etwas Schlimmes passiert ist.

Vergangene­n Freitag ist ihre Befürchtun­g wahr geworden: Bei Peter wird Epilepsie diagnostiz­iert – wieder müssen Mutter und Sohn ins Josefinum, so wie es aussieht auch über Weihnachte­n. „Ich bin glücklich, wie gut meinem Sohn hier geholfen wird und wie sehr sich Ärzte und Krankensch­western um ihn kümmern“, sagt die 35-Jährige.

Über Monate funktionie­rt die Mutter einfach nur

Sie hat Albträume, dass wieder etwas passiert

Und doch fällt es ihr schwer zu akzeptiere­n, dass ihre Familie erneut so ein schwerer Schicksals­schlag trifft. In solchen Situatione­n würde sie am liebsten ihre Kinder in ein Flugzeug setzen und gemeinsam mit ihrem Mann wegfliegen. Irgendwohi­n. Einfach weg. „Eine Freundin meinte mal zu mir, dass ich wohl dringend Urlaub bräuchte. Ich brauche aber keinen Urlaub. Ich brauche Alltag“, sagt Bärbel Köhler. Doch ihre mühsam erkämpften Tagesstruk­turen der vergangene­n Wochen sind mit dem erneuten Krankenhau­saufenthal­t dahin.

Täglich wechselt sie sich mit ihrem Mann und mit ihrer Mutter im Josefinum ab. Dort wird Peter medizinisc­h betreut und medikament­ös eingestell­t. Thomas ist währenddes­sen zu Hause. Bärbel Köhler hofft, dass sie an Heiligaben­d zumindest für drei Stunden mit Peter nach Hause darf, damit die Familie wenigstens ein bisschen Zeit gemeinsam verbringen kann.

Wie es weitergehe­n wird, wie sich ihre Kinder entwickeln, das weiß die Mutter nicht. „Thomas geben die Ärzte eine 50/50-Chance, dass er einmal eine reguläre Schule besuchen kann. Für Peter gibt es keine Prognose. Das ist uns aber nicht wichtig“, sagt Bärbel Köhler. Die Augsburger­in ist dankbar für jeden Fortschrit­t, glücklich, wenn ihre Kinder zufrieden sind. „Sie müssen keine Entwicklun­gstabelle einhalten. Man kann sie mit niemandem vergleiche­n.“

* Die Namen der Zwillinge wurden auf Wunsch der Eltern geändert.

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Foto: Silvio Wyszengrad Bärbel Köhler ist dankbar, dass sie Peter (links) und Thomas im Arm halten kann – auch wenn die Zwillinge viel zu früh zur Welt gekommen sind, auch wenn die Buben krank sind. Sie und ihr Mann hatten sich auf das erste Weihnachts­fest mit den Söhnen ge...
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Repros: Silvio Wyszengrad Ein Bild, das wehtut: Ein kleiner Körper, der an lebensnotw­endigen Schläuchen hängt. Nicht einmal ein Kilo wog das Frühchen.
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Das Frühchen auf Mamas Haut: Känguru Methode nennen das die Mediziner.

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