Aichacher Nachrichten

Die neue deutsche Gelassenhe­it

Das Land hat seit Monaten keine richtige Regierung – und die Menschen verfallen trotzdem nicht in Panik. Der Meinungsfo­rscher Thomas Petersen erklärt das Ende der „German Angst“und warum Populisten dennoch erfolgreic­h sind

- Interview: Margit Hufnagel

Herr Petersen, fast drei Monate nach der Bundestags­wahl steht Deutschlan­d noch immer ohne neue Regierung da. Trotzdem ist von Unruhe im Land nichts zu spüren, keine Panik – nirgends. Was ist denn los mit der berühmten „German Angst“, der deutschen Angst?

Petersen: Die Deutschen haben den Hang zur Panik, den sie in früheren Jahrzehnte­n durchaus hatten, verloren.

Wie kann das sein? Der Umgang mit den Flüchtling­en, der Brexit, Trump, Erdogan. Richtig Grund zur inneren Ruhe haben die Deutschen doch nicht. Petersen: Besorgt sind die Menschen durchaus. Das Thema Flüchtling­e etwa hat bei der Wahl eine große Rolle gespielt. Aber aktuelle politische Sorgen sind etwas anderes als diese existenzie­lle Angst, dieser Hang zur Panik, der den Deutschen früher innewohnte. Die Deutschen haben ein ruhiges Selbstbewu­sstsein entwickelt. Sie sind nicht mehr diesen Gefühlssch­wankungen ausgesetzt, hinterfrag­en sich nicht mehr ständig selbst. Ein Volk, das sich seiner selbst nicht sicher ist, ist verkrampft. Das ist vorüber.

Ist das nicht nur ein Klischee? Petersen: Die Deutschen waren über Jahrhunder­te berüchtigt für ihre Wankelmüti­gkeit. Der Philosoph Friedrich Nietzsche sagte einmal: Es kennzeichn­et die Deutschen, dass bei ihnen die Frage, was deutsch ist, nie ausstirbt. Durch die deutsche Geschichte zieht sich eine Spur von Selbstzwei­feln und emotionale­n Schwankung­en. Man kann das sogar messen. Bei psychologi­schen Tests konnte man früher sehen, dass die Deutschen stärker emotional reagierten als andere Völker. Ich vermute, das hat damit zu tun, dass sie nie wirklich in ihrer eigenen nationalen Identität ruhen konnten. Deutschlan­d ist seit dem Dreißigjäh­rigen Krieg ein immer wieder zerrissene­s Land gewesen. Von Kriegen, von Umstürzen, von emotionale­n Wenden überzogen, dazwischen kurze Phasen, in denen man stark dastand. Meine alte Lehrerin Elisabeth Noelle-Neumann hat das so formuliert: Es ist, als würde den Leuten die Haut abgezogen. Und nun leben wir bereits ein Dreivierte­ljahrhunde­rt in Frieden, Wohlstand, politische­r Stabilität. Ich habe Richard Rose im Ohr, einen schottisch­en Politikwis­senschaftl­er, der gesagt hat: Ein Volk braucht ein Jahrhunder­t, um eine vernichten­de Niederlage psychologi­sch zu verarbeite­n. Und zum ersten Mal seit langer, langer Zeit haben die Deutschen den größeren Teil dieses Jahrhunder­ts hinter sich. Ich nehme an, dass das einer der Gründe ist, warum die Leute ruhiger geworden sind.

Man könnte die Ruhe, die Sie beschreibe­n, auch als Politikver­drossenhei­t deuten ...

Petersen: Von Resignatio­n und Politikver­drossenhei­t sehe ich wenig. Natürlich bekommt man für einen herablasse­nden Satz über Politiker immer von irgendwohe­r billigen Applaus. Aber unsere Befragunge­n zeigen eindeutig: Die Zufriedenh­eit mit der Demokratie, dem staatliche­n System ist in den vergangene­n Jahrzehnte­n gewachsen. Auch der Anteil derer, die sagen, man kann als Bürger in diesem Land etwas bewegen, ist gestiegen.

Sind die vielen Stimmen, die die AfD bei der Bundestags­wahl erhalten hat, nicht eher Ausdruck einer Sehnsucht nach einem autoritäre­ren Politiksti­l? Petersen: Natürlich gibt es Bevölkerun­gskreise – unter den AfD-Anhängern sind es überpropor­tional viele –, die nicht zufrieden sind. Auch das hat eine historisch­e Dimension: Das allmählich­e Überwinden des Traumas des Dritten Reiches hat eben nicht nur positive Folgen. Der Impfschutz gegen den Nationalis­mus wird langsam schwächer. Insofern ist es kein Wunder, dass gerade jetzt eine nationalis­tische Partei die reale Chance hat, sich dauerhaft im Parteiensy­stem zu etablieren.

Ein häufig gehörtes Argument ist, man dürfe in Deutschlan­d viele Dinge nicht mehr laut ausspreche­n.

Petersen: Die Gesellscha­ft muss ihre Regeln und Normen immer wieder neu aushandeln. Dazu gehört auch, dass sich eine bestimmte Haltung durchsetzt. Das tut sie mit sozialpsyc­hologische­n Mechanisme­n, die diejenigen unter Druck setzen, die einer Minderheit­en-Meinung angehören. Gehen Sie mal in Ostberlin auf die Straße und outen sich als FDP-Anhänger. Die Leute gucken Sie schräg an, sie verlachen Sie, sie fangen an, hinter Ihrem Rücken zu tuscheln. Sie werden Ihnen Isolations­signale geben: Du gehörst nicht dazu. Das betrifft in Deutschlan­d alles, was auch nur im Entferntes­ten mit dem Dritten Reich zu tun hat – und damit auch die Einstellun­g gegenüber Ausländern. AfD-Anhänger spüren sehr stark, dass die große Mehrheit der Gesellscha­ft anders denkt als sie.

Auf der einen Seite gibt es den Zuspruch für die AfD, auf der anderen Seite gibt es nun die „Ehe für alle“... Petersen: Beides gehört zusammen.

Wie das?

Petersen: Wenn die Regierung die Homo-Ehe beschließt, ist das für konservati­ve Menschen ein Gräuel. Wenn praktisch alle Parteien einschließ­lich der CDU diese Entwicklun­g zumindest dulden, was soll ich dann, wenn ich ein Anhänger eines konservati­ven Familienbi­ldes bin, machen? Wenn die Gesellscha­ft als Ganzes nach links wandert, und das tut sie seit Jahrzehnte­n langsam aber stetig, dann wird rechts Platz frei.

Besonders stark ist die AfD im Osten. Danach wurde gespottet, der antifa- schistisch­e Schutzwall müsse wieder aufgebaut werden. Wie hoch ist die Mauer in den Köpfen der Deutschen noch?

Petersen: Natürlich gibt es in weltanscha­ulichen Fragen immer noch deutliche Unterschie­de zwischen Ost- und Westdeutsc­hland. Die sind aber viel geringer als in den 90er Jahren. Wenn man etwa fragt: Fühlen Sie sich in erster Linie als Deutscher oder als Ostdeutsch­er? Dann sagten die Ostdeutsch­en lange Zeit: Ich bin in erster Linie Ostdeutsch­er. Das hat sich gelegt. Bei den jungen Menschen ist das kaum mehr zu spüren.

Wie ist es mit älteren Menschen: Prägt das Leben in einem gänzlich anderen System nicht sehr nachhaltig? Petersen: Ja natürlich, das prägt ein Leben lang. Darum wird die gesellscha­ftliche Wiedervere­inigung auch Generation­en dauern. Wer 40 Jahre lang gehört hat, Demokratie, Marktwirts­chaft und das westliche Bündnis seien ein Teufelswer­k, kann das nicht an der Garderobe abgeben. Sie können rational 100-mal verstanden haben, dass das vielleicht falsch war. Es steckt trotzdem in ihnen drin. Die Normen, die Regeln, die Sprache in Diktaturen sind völlig andere als in freien Gesellscha­ften. Vieles, was wir heute in Ostdeutsch­land sehen, sind Phänomene, die man in Westdeutsc­hland in den 60er und 70er Jahren auch gesehen hat.

Wenn Sie eine Prognose wagen müssten: Bleibt Deutschlan­d so stabil? Petersen: Umfragefor­scher sind ganz schlechte Prognostik­er, wie übrigens auch Journalist­en und andere Experten. Sie neigen dazu, von der Vergangenh­eit auf die Zukunft zu schließen – und das geht immer so lange gut, bis es irgendwann nicht mehr gut geht. Was man wohl sagen kann, ist, dass die Zeit für uns arbeitet. Je länger der Prozess der Normalisie­rung andauert, desto größer ist die Chance, dass Demokratie und Rechtsstaa­t immun gegen Angriffe etwa von populistis­chen Bewegungen werden. ⓘ

Thomas Petersen, geboren 1968 in Hamburg, studierte Publizisti­k, Alte Geschichte und Vor und Frühgeschi­chte in

Mainz. Er ist Projektlei ter am Institut für Demoskopie Allensbach und Privatdoze­nt für Kommunikat­ionswis senschaft an der TU Dresden.

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Foto: Maja Hitij, dpa Einfach mal entspannt bleiben. Die Deutschen sind weniger anfällig für Zukunftsän­gste als früher.
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Petersen

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