Ende der Eiszeit mit der Türkei?
Die Deutsche Mesale Tolu darf nach siebeneinhalb Monaten in Untersuchungshaft das Gefängnis verlassen. Das ist auch ein Signal der Türkei an die Bundesregierung
Istanbul Mesale Tolu ist in Handschellen in den kleinen Gerichtssaal in Istanbul geführt worden. Auf der Anklagebank sitzt sie neben fünf anderen inhaftierten Beschuldigten, jeder von ihnen flankiert von zwei Polizisten. Als der junge Richter am Montag seine Entscheidung verkündet, hält Tolu über den Schoß eines der Polizisten hinweg die Hand eines Mitangeklagten.
Dann löst sich die Anspannung in Freude auf: Die Deutsche und die fünf Türken kommen frei – unter Auflagen: Solange es kein Urteil gibt, dürfen sie das Land nicht verlassen, jeden Montag müssen sie sich bei der Polizei melden. Der 33-jährigen Neu-Ulmerin, die in Istanbul für die kleine linke Nachrichtenagentur Etha arbeitet, und insgesamt 17 Mitangeklagten wird Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen, gemeint ist die linke MLKP. Nach der Entscheidung des Gerichts am Montag reckt ihr Vater Ali Riza Tolu vor dem Saal die Faust zur Siegerpose in die Luft: „Ich bin der glücklichste Mensch der Welt.“
Die Anklage basiert im Wesentlichen auf der Teilnahme Tolus an Kundgebungen. Aus Sicht ihrer Anwälte hätte sie für die dünnen Vorwürfe erst gar nicht in U-Haft genommen werden dürfen. Ihr Vater führt die Freilassung – die das Gericht zum Prozessauftakt am 11. Oktober noch verweigert hatte – auf die Verbesserung der deutsch-türkischen Beziehungen zurück.
Tatsächlich bemüht sich Ankara seit dem Höhepunkt der Krise im Sommer um Entspannung. Der deutsche Botschafter Martin Erdmann – am Montag als Beobachter beim Prozess in Istanbul – bekommt wieder leichter Termine, nachdem die Türen in Ankara für ihn zeitweise verschlossen waren. Ende Oktober wurde der deutsche Menschen- rechtler Peter Steudtner aus der U-Haft entlassen. Vize-Ministerpräsident Mehmet Simsek, der vor allem für Wirtschaft zuständig ist, sagte Anfang des Monats nach einem Bericht der regierungsnahen Zeitung Daily Sabah, das Schlimmste sei vorüber. „Die Beziehungen verbessern sich, nachdem sie die Talsohle erreicht hatten.“
Ähnliche Töne kommen aus der Regierungspartei AKP von Staatschef Recep Tayyip Erdogan. „Unsere Beziehungen zu Deutschland haben angefangen, sich zu normalisieren“, sagte AKP-Sprecher Mahir Ünal kürzlich bei einem der seltenen Treffen mit Auslandskorrespondenten. „Wir wollen keine Probleme mit Deutschland.“Erdogan hat seit Wochen keine neuen Vorwürfe an die Adresse Berlins mehr gerichtet.
Berechenbarkeit ist keine Stärke der türkischen Außenpolitik, daher lässt sich über die Hintergründe der Charmeoffensive nur spekulieren. Ein Auslöser dürfte sein, dass sich Probleme mit anderen Staaten mehren – derzeit vor allem mit den USA und mit Israel. Auch hat die türkische Seite erkannt, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem wichtigsten Handelspartner Deutschland nicht abgekoppelt von der politischen Kooperation funktioniert. Knirscht es zwischen Berlin und Ankara, bleiben neue Investoren aus Deutschland fern.
Für Familie Tolu spielte die Weltpolitik am Montag eine Nebenrolle. Nach dem auf die Gefängnisentlassung zunächst folgenden „Versteckspiel“der Polizei, holten ihre Angehörigen gemeinsam mit Botschafter Erdmann die 33-Jährige von der Polizeistation im Istanbuler Stadtteil Fatih Bakirköy ab. Die junge Frau ist von siebeneinhalb Monaten hinter Gittern gezeichnet.