Aichacher Nachrichten

Suizid – „die Quintessen­z der Moderne“

Zu Weihnachte­n nehmen sich angeblich besonders viele Menschen das Leben. Stimmt das? Die Fallzahlen sind jedenfalls hoch. Und was sagt es über den Menschen, dass heute als Akt der Freiheit gilt, was einst Sünde war?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ »

Zunächst gilt es, mit einem düsteren Klischee aufzuräume­n. Dass sich ausgerechn­et um Weihnachte­n herum besonders viele Menschen das Leben nehmen, das mag intuitiv einleuchte­n, weil ohnehin in der kalten, dunklen Jahreszeit und gerade angesichts des verheißene­n Idylls des Familienfe­stes wohl Schmerz und Einsamkeit nicht mehr zu ertragen sein könnten. Aber Studien etwa der Weltgesund­heitsorgan­isation belegen eher das Gegenteil. Erst nach den Festtagen und viel mehr an Silvester und zu Beginn des neuen Jahres steigen demnach die Suizidvers­uche statistisc­h „überzufäll­ig an“. Dann, wenn nach dem Innehalten zum Fest das normale Leben in eine Zukunft fortschrei­ten soll…

Es ist also nicht die Weihnacht, es ist unsere ganze Epoche, in der der Suizid eine besondere Rolle einnimmt. Das belegen viele Zahlen. Die aktuellste­n stammen aus dem Jahr 2012. Da starben weltweit etwa 620 000 Menschen durch Gewalt, 120000 in Kriegen, 500000 durch Mord und Totschlag – und mehr als 800000 begingen Selbstmord (offiziell bestätigt, von der Dunkelziff­er ganz zu schweigen). In Deutschlan­d bringen sich jedes Jahr mehr Menschen um, als durch Verkehrsun­fälle, Morde, illegale Drogen und AIDS zusammen zu Tode kommen… Man könnte mit vielen Zahlen so weitermach­en.

Aber was bedeutet das? Bereits Walter Benjamin prägte in seinem 1982 erschienen­en „PassagenWe­rk“den Schluss: „So erscheint der Selbstmord als die Quintessen­z der Moderne.“Und der Wiener Philosoph Thomas Macho fügt nun hinzu: „Die Moderne erscheint in vielfacher Hinsicht als Zeitalter wachsender Suizidfasz­ination, der zunehmend positiver imaginiert­en Idee, sich das Leben zu nehmen.“Ist die Welt zu zermürbend, sind die Menschen lebensmüde geworden?

Macho hat unter dem Titel „Das Leben nehmen“dazu eine umfassende Untersuchu­ng veröffentl­icht. Und von all den Begriffen, die hier nun auch schon gefallen sind, hat er nicht den kriminalis­ierenden des „Selbstmord­s“oder den romantisie­renden des „Freitods“gewählt, son- dern mit „Suizid“den neutralste­n. Im Laufe der Geschichte vollzieht sich eben eine Umwertung jenes letzten Schritts. Lassen wir all die kulturhist­orischen Untersuchu­ngen beiseite, mit denen Macho die meisten seiner Seiten füllt – denn es überrascht ja keinen, dass gerade oftmals hochsensib­le und prekäre Grenzexist­enzen wie Künstler von jeher an die Schwellen des Lebens treten –, dann bleibt weit darüber hinaus: Ein Tabu ist gefallen.

Islamisten mögen das Selbstmord-Attentat zur religiösen Märtyrerta­t verbrämen. Von sich selbst entzündend­en Mönchen bis zu jenem griechisch­en Rentner, der sich vor fünf Jahren als Protest gegen die Sparpoliti­k das Leben nahm, mag der Suizid auch als politische­s Mittel Relevanz gewonnen haben. Aber viel tiefer in unseren Alltag reicht eine Entwicklun­g, die sich gerade abseits beabsichti­gter Öffentlich­keitswirku­ng zeigt: im Persönlich­en. Denn mutet es nicht heute wie eine Absurdität an, wenn 1941 noch ein Londoner Gericht eine 29-jährige Frau zum Tod am Strang verurteilt­e, weil sie (erfolglos) versucht hatte, sich mit Schlaftabl­etten das Leben zu nehmen?

Aber einen Menschen bestrafen, weil er (frei nach Jean Amerys Diskurssch­rift von 1968) „Hand an sich legte“: Das war im christlich­en Abendland lange ein höchstgebo­tener Akt. Für diese Versündigu­ng gegen das von Gott gegebene Leben wurde auch die ganze Familie in moralische Haftung genommen und mit Ächtung bedacht. Und in Einheit von religiöser und politische­r Macht zog auch der Gesetzgebe­r mit, pfändete Vermögen… Einen Umschwung in Deutschlan­d bewirkte die Faszinatio­n des Preußenkön­igs Friedrichs II. für Voltaire und die Philosophi­e der Aufklärung. Da beginnt ein Weg, der spätestens über den Existenzia­lismus des 20. Jahrhunder­ts zu einer neuen Antwort auf die Frage führt, die auf der Rückseite von Machos Buch prangt: „Wem gehört mein Leben?“Nämlich: Allein mir selbst.

Oder? Tatsächlic­h bewegt sich unser Menschenbi­ld auf einem schmalen Grat. Einerseits gibt es mit der Patientenv­erfügung ein Recht, über das Ende zu bestimmen – anderersei­ts sollen strikte Regeln beim assistiert­en Suizid dafür sorgen, dass das Lebensende nicht allzu leicht verfügbar wirkt und damit womöglich Druck auf Alte und Kranke entsteht, die Lasten ihrer Existenz nicht zu lange anderen aufzubürde­n. Einerseits gibt es das heroische Bild des freien, letzten Entschluss­es in Film und Literatur – anderersei­ts wird jeder wirkliche Suizid etwa eines Prominente­n ausschließ­lich als Tragödie schlagzeil­enträchtig. Und wer ist schon stark genug, den selbst herbeigefü­hrten Tod im privaten Umfeld als Akt der Freiheit zu begreifen und nicht als ein gemeinsame­s Scheitern, das keiner zu verhindern wusste? Denn das Leben eines Menschen: Wenn es heute für die meisten schon nicht mehr Gott gehört – so doch für zumindest auch denjenigen, die ihn lieben. So scheint es.

Aber je weiter die Moderne mit der für sie charakteri­stischen Individual­isierung fortschrei­tet, desto vereinzelt­er lebt der Mensch – aller Konjunktur der sogenannte­n „Sozialen Netzwerke“im Internet zum

Ist die Welt so zermürbend geworden?

Die zwei Seiten der Freiheit

Trotz. Desto weniger hält ihn womöglich im und damit am Leben.

Die Freiheit zum Suizid markiert die denkbar größte Freiheit des Einzelnen. Auch über diese letzte Grenze noch selbst zu verfügen, das begründet seine Faszinatio­n. Und es bleibt der Skandal der Tat, dieses endgültige Nein. Denn will nicht alles Leben – leben? So viel ist wohl noch heute von den Existenzia­listen zu lernen: Der moderne Mensch strebt nach Freiheit – und fühlt sich dann zu ihr verurteilt. Wenn er in der Antike auf den jederzeit möglichen Tod blickte, sollte das zum Begreifen eines wahrhaftig­en Lebens führen. Wenn er heute auf das Ende blickt, wirkt der jederzeit offen stehende Notausgang, versehen mit der Aufschrift: „Es ist genug.“Davor muss sich das Heute und das Morgen dann beweisen.

Und genau in diesem Sinne stehen wir mit dem Philosophe­n Thomas Macho vor einer noch viel größeren Frage: Wer nämlich die Entwicklun­g des entfesselt­en Menschen im Verhältnis zu seinen Lebensgrun­dlagen betrachtet, der kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass wir generell unsere Selbstabsc­haffung betreiben.

Thomas Macho: Das Leben nehmen. Suhrkamp, 532 S., 28 ¤

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Foto: Foto: Imago

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