Aichacher Nachrichten

DIN sei Dank!

Das Papier passt in den Drucker, die Wurst auf den Grillrost und sogar für Treppen gibt es Standardma­ße. Seit genau 100 Jahren bringt das Institut für Normung Ordnung in unseren Alltag. Aber manche Dinge funktionie­ren trotz allem nicht

- VON SONJA KRELL

Berlin Es ist nur eine Treppe. Neun Stufen rauf, neun Stufen runter. Aber ein gutes Beispiel für das, was Oliver Boergen erklären will. „Na, dann gehen Sie mal“, sagt er und deutet auf die Stufen. Und nach den ersten Schritten, als einen das Gefühl beschleich­t, dass unter einem etwas nicht stimmt, nickt er. „Sehen Sie!“Das, was seine Kollegen hier aufgebaut haben, mag aussehen wie eine normale Treppe – aber eben mit deutlich kürzeren Stufen. So kurz, dass man meint, die eigenen Füße würden nicht daraufpass­en. Also beginnt Boergen zu erklären. Dass sich das Steigungsv­erhältnis einer Treppe aus einer Formel berechnet. Dass eine genormte Treppe 27 Zentimeter lange und 19 Zentimeter hohe Stufen hat. Und dass all das in der DIN 18065 festgeschr­ieben ist, der Norm für Gebäudetre­ppen. Fallen die Stufen aus diesem Raster, muss man sich konzentrie­ren, wo man hintritt. „Dann passieren auch viel schneller Unfälle.“

Eine Norm für Treppen also. Schon wieder so eine Sache, über die man sich wohl noch nie Gedanken gemacht hat, so sinnvoll es klingen mag. Boergen, der an diesem Nachmittag durch das Deutsche Institut für Normung, kurz DIN, führt, hat noch mehr davon. Dinge, die wie selbstvers­tändlich zueinander­passen etwa. Der Zapfhahn in die Tanköffnun­g am Auto. Die Mutter auf die Schraube. Die Mine in den Kugelschre­iber. Oder die Sache, dass man das Würstchen auf den Grillrost legen kann, ohne dass es zwischen den Stäben durchfällt. DIN EN 1860-2. Dass bei einer Zahnbürste die Borsten nicht ausfallen. DIN EN ISO 20126. Oder dass eine Kalenderwo­che nun mal ein „Zeitinterv­all von sieben Tagen“ist, „das an einem Montag beginnt“, DIN ISO 8601. Und für all das gibt es Normen? Oliver Boergen kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das weiß keiner. „Das geht den meisten so“, sagt er.

Ja, die meisten Deutschen wissen erstaunlic­h wenig über das, was das DIN so macht. Dabei regelt diese Einrichtun­g den Alltag in unserem Land, bringt Ordnung in unser Leben, setzt Maßstäbe in vielen Bereichen. Seit genau 100 Jahren schreibt das Institut fest, wie die Dinge sein sollten, damit sie zueinander passen, funktionie­ren und noch dazu sicher sind. Manche nennen die Mitarbeite­r vom Berliner DIN-Platz „Bürokraten“, „Gleichmach­er“. Bei solchen Worten versteht DIN-Sprecher Boergen keinen Spaß. „Das ist einfach falsch“, sagt er und muss noch mal anfangen, ganz von vorne.

Weil das DIN ja keine Behörde ist, sondern ein privatwirt­schaftlich organisier­ter Verein, weil Normen hier nicht erlassen werden, sondern von unterschie­dlichen Interessen­gruppen erarbeitet und auch finanziert werden, weil um die 32 000 Experten an diesen Normen mitarbeite­n und den Anstoß dazu jeder geben kann, ganz bequem per Normenantr­ag übers Internet. Und noch eine Sache muss Boergen klarstelle­n: Normen sind keine Gesetze, Firmen können sie freiwillig nutzen. „Vereinfach­t gesagt sind es Texte und Bilder.“Sie schaffen Klarheit, wie etwas auszusehen hat, wie es sich anfühlen oder funktionie­ren soll. „Im Grunde sind sie wie eine gemeinsame Sprache der Marktteiln­ehmer.“

Sieht man das so, gibt es ziemlich viele Sprachen. Aktuell sind 33884 Normen beim DIN verzeichne­t, 2329 kamen allein im letzten Jahr dazu. Seit seiner Gründung am 22. Dezember 1917 hat das DIN einen Lebensbere­ich nach dem anderen standardis­iert – zuerst das Militär und den Maschinenb­au, angefangen bei DIN 1, der allererste­n Norm für Kegelstift­e, einem konischen Verbindung­selement, das Maschinent­eile zusammenhä­lt. Nach dem Zweiten Weltkrieg schoben Normen das Wirtschaft­swunder an, wurde Honig und Milch genormt, das Körpergewi­cht der Deutschen und deren Kleidergrö­ßen, irgendwann auch Schlafsäck­e, Schnuller und Schuhe, Toiletten-Spülkästen, Tätowierun­gen und Teddy-Augen. Und es gibt sogar eine Über-Norm. „Die DIN 820“, sagt Boergen und muss wieder grinsen, „beschreibt seit 1977, wie das Normverfah­ren abzulaufen hat.“

Der bekanntest­e Standard aber hat schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel. 1922 stutzte das Berliner Institut alle Akten im Reichsgebi­et auf das Maß, das die „DIN 476 Papierform­ate“vorgab. Das A4Format galt fortan als „Einheitsbr­iefbogen für das bisherige Briefquart­und Aktenforma­t“. Der Berliner Ingenieur Walter Porstmann, der das Ganze vorangetri­eben hatte, sah den Gewinn damals in der „Schonung unserer kostbarste­n Gü- ter, der Wälder“– nicht ahnend, dass sein Modell zum Exportschl­ager werden sollte. Einen „Welterfolg aus Deutschlan­d“nennt Boergen die Papierform­el heute.

Vielleicht ist es ja so, dass wir Deutschen das gut können: Standards festlegen, Regeln definieren, Normen erlassen. Weil wir das eben mögen – Ordnung, Klarheit, Struktur. Wieder so eine Klassifizi­erung, bei der Boergen abwinkt. „Andere Länder waren schneller.“In Großbritan­nien entstand die erste Normungsor­ganisation 1901, in Frankreich 1916, getrieben durch die Industrial­isierung. Tatsächlic­h aber ist das DIN inzwischen die größte Normungsor­ganisation weltweit, 85 Prozent der Arbeit konzentrie­ren sich auf internatio­nale Normen.

Auch da gibt es eine, die jeder kennt. Und eine Geschichte, die Boergen erzählen kann. Sie beginnt mit Malcolm McLean, einem Bauernsohn und Fuhruntern­ehmer aus North Carolina. Er ärgerte sich, dass ihn das Umladen seiner Ware jedes Mal so viel Zeit kostete. Also entwickelt­e er Container und schickte 1956 die ersten auf Reisen. Das Modell sorgte für Aufsehen, wurde Grundlage für eine internatio­nale ISO-Norm. Weil alle Container die gleichen Maße haben, können bis zu neun Etagen übereinand­ergestapel­t werden. Und weil die Eckbeschlä­ge identisch sind, kann er in China aufs Schiff und in Hamburg auf den Lkw geladen werden. „Der Handel, wie er heute stattfinde­t, wäre ohne den ISO-Container nicht vorstellba­r. Jedes Jahr ist weltweit fast eine Viertelmil­liarde davon unterwegs.“

Einer Studie zufolge liegt der gesamtwirt­schaftlich­e Nutzen der Normung bei 17 Milliarden Euro im Jahr. Damit ist auch klar, warum Firmen sich um einheitlic­he Vorgaben bemühen: Sie machen die Produktion effiziente­r, erleichter­n es, neue Märkte zu erschließe­n und vereinfach­en den Handel. Da nehmen Hersteller auch den langwierig­en Normungspr­ozess auf sich und die Kosten, die sie selbst tragen müssen. Außerdem erzeugen Normen Vertrauen beim Verbrauche­r. Karin Both weiß, dass es auch anders sein kann. Die Geschäftsf­ührerin des DIN-Verbrauche­rrats befasst sich

Es gibt eine Norm für Tattoos und Toiletten Spülkästen

Den Staubsauge­r Wahnsinn konnten sie nicht beenden

mit dem, was die Deutschen ärgert: Das kann die unverständ­liche Gebrauchsa­nweisung sein, die KaffeeVerp­ackung, die sich nur mit Gewalt öffnen lässt, oder die Tatsache, dass die deutsche Kleidergrö­ße 40 nun mal keine 40 in Italien ist.

Und dann ist da der Wahnsinn mit den Staubsauge­rbeuteln. Weil es auf dem Markt geschätzt 1200 Staubsauge­rtypen gibt, aber auch hunderte unterschie­dlicher Beutel. Und sich der Kunde damit regelmäßig wieder auf die Suche nach einem passenden Beutel zu seinem Modell machen muss. Vor Jahren hat der DIN-Verbrauche­rrat einen Normungsan­trag gestellt: „Staubsauge­rbeutel, Maße und Bezeichnun­gen“. Die Hersteller diskutiert­en ihn im Ausschuss – und lehnten ab. Sie konnten sich nicht auf gemeinsame Vorgaben einigen.

Zuletzt hat Both mit Handelsver­tretern und Experten aus dem Wirtschaft­sministeri­um um eine bessere Kennzeichn­ung am Supermarkt­regal gerungen, um Preisschil­der, die auch Ältere lesen können. Drei Jahre dauerte das Verfahren. „Dann haben wir das Ganze scheitern lassen“, sagt Both und zuckt mit den Schultern. Für ihre Arbeit, sagt sie, braucht es einen langen Atem. Manchmal aber müsse man auch erkennen, wenn ein Prozess zu nichts führt.

Bei Sache mit dem Handy-Ladekabeln ist es anders. Dafür gibt es eine Norm, erarbeitet von der Wirtschaft, DIN EN 62684:2011-05. Ein einheitlic­hes Ladekabel, das für jedes Handy passt, hat danach einen Micro-USB-Anschluss. Klappt auch bei den meisten Hersteller­n. „Nur Apple hält sich leider nicht daran“, räumt DIN-Sprecher Boergen ein. Stattdesse­n setzt der US-Konzern lieber auf seinen eigenen Standard.

Die Sache mit der Norm-Treppe dürfte einfacher gewesen sein. Nur so eine Vermutung.

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Foto: Natthanim, Fotolia Ist genormt, passt trotzdem nicht in alle Handys: Lade kabel mit Micro USB Anschluss.
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Foto: DIN DIN 1: Die erste Norm legte die Maße für den Kegelstift fest, ein Verbindung­selement in Maschinen.
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Foto: photosnic, Fotolia 20 Millimeter dürfen Grillrost Stäbe auseinande­r sein, damit die Wurst nicht durchfällt.
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Foto: lpictures, Fotolia Sie muss 15 Newton standhalte­n, damit die Borsten beim Zähneputze­n nicht ausfallen.
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Foto: Wyszengrad Schnuller sollen mindestens zwei Löcher haben – für den Fall, dass ein Baby sie verschluck­t.
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Foto: rdnzl, Fotolia 19 Zentimeter ist die ideale Treppenstu­fe hoch, 27 Zen timeter tief, sagt die Norm.
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Foto: dpa Einheitlic­he Maße sind wichtig, damit ein Container auf den nächsten gestapelt werden kann.
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Foto: Marima Design, Fotolia Das Fell soll feuerfest sein, die Knopfaugen sollen hefti ges Ziehen aushalten.
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Foto: mileswork, Fotolia Die bekanntest­e aller Normen: Ein DIN A4 Blatt misst 210 mal 297 Millimeter.

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