Schreiben für ein bewohnbares Land
Heinrich Böll galt einmal als der wirkmächtigste deutsche Autor der Nachkriegszeit. Doch länger schon ist es still geworden um das Werk des Nobelpreisträgers. Haben seine Romane uns Heutigen nichts mehr zu sagen?
Da stehen sie. Frau Bach und Frau Brielach, die Kriegerwitwen. Fred, der traurige Trinker. Robert Fähmel mit dem Billardqueue in der Hand. Hans Schnier, der verzweifelte Clown. Die Haushälterin Katharina, die zur Pistole greift. Leni, die Aussteigerin. Leicht angestaubt, diese Bücher im Regal, lange nicht mehr in der Hand gehabt.
Jetzt, zum 100. Geburtstag ihres Autors, bietet es sich an, mal wieder darin zu blättern. Und siehe da: Man liest sich ganz schnell fest, man ist sofort wieder drin in diesen Geschichten aus der Nachkriegszeit, aus der alten Bundesrepublik, aus dem katholischen Macht-Raum Köln-Bonn. Ist Heinrich Böll also ein Autor, der auch mehr als sechs Jahrzehnte nach Erscheinen seines ersten Romans noch frisch wirkt, der uns auch im 21. Jahrhundert etwas zu sagen hat?
Wenn ja, dann liegt das gewiss an seinen Figuren, die so lebendig und eigensinnig sind, so traurig, widerständig und risikobereit, dass wir uns ihnen gar nicht entziehen können. Nella Bach will ihren gefallenen Mann einfach nicht vergessen, Hans Schnier nicht seine in den Schoß der Kirche zurückgezwungene Geliebte. Robert, Leni, Katharina und die anderen nehmen ihre Verstrickung in die deutsche Geschichte mit schier unfassbarer Leidensbereitschaft an. Mit diesen erfundenen Menschen hat Heinrich Böll in der Tat die Geschichtsvergessenheit des WirtschaftswunderDeutschland, die durch Leistung und Konsum verdeckten Kontinuitäten aus der Nazizeit, den ebenso muffigen wie machtbewussten Katholizismus der Adenauer-Republik bloßgestellt. Und er hat damit seine Leser aufgewühlt und seine Kritiker in den deutschen Macht-Eliten bis aufs Messer gereizt. Er wollte mit seiner Literatur nach dem Grauen von Nationalsozialismus und Krieg ein „bewohnbares Land“schaffen, ein solidarisches, humanes Land. Sich schreibend einzumischen in Gesellschaft und Politik war für den gläubigen Christen alternativlos.
Heinrich Böll, am 21. Dezember 1917 in Köln geboren, wollte immer schon Schriftsteller werden. Weil die Eltern für ihr achtes Kind einen soliden Beruf wünschten, machte er nach dem Abitur zuerst eine Buchhändlerlehre, die er bald abbrach. Studieren konnte er auch nicht, weil er schon im September 1939 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Heinrich Böll war die gesamten sechs Kriegsjahre Soldat, mehrfach verwundet, immer als einfacher Gefreiter. Er war nicht im aktiven Widerstand gegen das NS-Regime, aber durch seine Verankerung im katholischen Milieu sicher in seiner Gegnerschaft zu Hitler. Aus den 2001 publizierten Briefen an die Eltern, die Geschwister und seine Frau Annemarie, die er 1942 heiratete, sowie aus den erst kürzlich veröffentlichten Kriegstagebüchern wird deutlich, wie er den Stumpfsinn des soldatischen Gehorchens hasste, wie er das Töten fürchtete und wie er Trost in seinem Glauben fand.
1945 begann Böll gleich zu schreiben. Annemarie arbeitete als Lehrerin und sicherte damit den Lebensunterhalt der schnell wachsenden Familie mit den drei Söhnen. 1951 wurde der junge Autor zur Gruppe 47 eingeladen und erhielt den Preis für seine Erzählung „Die schwarzen Schafe“. Der erste Roman „Wo warst du, Adam?“verkaufte sich noch schleppend, aber dann kam mit „Und sagte kein einziges Wort“sowie „Haus ohne Hüter“– die Bü- thematisierten die verheerenden Folgen des Kriegs – der Erfolg. So massiv, dass Böll die Flucht antrat – nach Irland, wo er zunächst allein, dann mit der Familie einen Teil des Jahres verbrachte, um Ruhe zu finden. Das „Irische Tagebuch“war der literarische Ertrag.
Mit „Billard um halb zehn“und „Ansichten eines Clowns“profilierte sich Böll als Kritiker von AmtsKatholizismus und Restauration der Fünfzigerjahre. „Gruppenbild mit Dame“(1971) spannt einen großen Bogen deutscher Geschichte von der Kaiserzeit bis in die Studentenbewegung und singt dabei das Hohelied der einfachen Leute. Ihnen fühlte sich Böll immer verbunden. Mit „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“(1974) mischte er sich direkt ein in die politische Aufgeregtheit der 1970er Jahre, die geprägt waren vom Terror der RAF und der Härte staatlicher Sanktionen.
Er und seine Familie gerieten damals selbst unter Beschuss. Weil Böll die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards auch gegenüber inhaftierten Terroristen wie Ulrike Meinhof forderte, sich gegen Vorverurteilungen und für die Menschenrechte aussprach, musste er Hausdurchsuchungen und wütende Anwürfe der Medien, vor allem der Bild-Zeitung, ertragen. Mit der Erzählung über die unbescholtene Haushälterin Katharina Blum, die sich in einen Terroristen verliebt und dafür von „der Zeitung“gejagt wird, schlug Böll zurück. Das Buch wurde ein Riesenerfolg, den die Verfilmung noch steigerte.
Böll sprach sich gegen die Notstandsgesetze aus, zeigte Sympathie für die Studentenproteste, demonstrierte gegen die Nachrüstung. Viele Bilder zeigen ihn in Diskussionsrunden – dieses offene, auch sehr melancholische Gesicht freundlich den Menschen zugewandt; in Mutlangen saß er, schon von Krankheit gezeichnet, mitten unter den Demonstranten. Mehrfach verhalf er Oppositionellen aus der Tschechoslowacher kei und der DDR zur Flucht in den Westen; mit den sowjetischen Dissidenten Lew Kopelew und Alexander Solschenizyn verband ihn enge Freundschaft. Für seine Einmischung wurde er von den Konservativen im Lande allerdings nicht gerade geliebt. Als Böll dann 1972 den Nobelpreis erhielt, war das für ihn gewiss auch eine Entschädigung für die vielen Anwürfe, die er zu erdulden hatte.
Er war jetzt berühmt und anerkannt als der gewiss wirkmächtigste Autor der Nachkriegszeit. Kollegen und Kritiker warfen ihm zwar manchmal „Biederkeit“der literarischen Gestaltung und fehlende Experimentierfreude vor, obwohl er sich in multiperspektivischer Erzählweise und strenger Konzentration der Abläufe übte, auch einen starken Hang zur Satire hatte. Ganz Boshafte behaupteten, Böll sei mehr guter Mensch als guter Autor.
Dabei mühte er sich stets gewissenhaft um die deutsche Sprache. Sie wollte er vom Pathos der Nazizeit befreien und wieder auf Augenhöhe mit der Weltliteratur führen, mit ihr zeichnete er lebensnahe Figuren und gesellschaftliche Realität, sie war für ihn der Hort der Freiheit. Böll wollte nie der abgehobene Künstler sein, sondern ein Volksschriftsteller, der ein großes Publikum erreicht und auch die politische Wirklichkeit beeinflusst. Das ist ihm gelungen wie vielleicht keinem Zweiten.
Und heute? Wer sich bei Lehrern und Schülern umhört, der wird feststellen, dass Bölls Werke nahezu verschwunden sind aus dem Deutschunterricht, allenfalls liest man noch die „Katharina Blum“als historisches Zeugnis. Tatsächlich müsste man jungen Menschen, die um die Jahrtausendwende geboren sind, viel erklären über diese ihnen so ferne Zeit, in der Bölls Romane entstanden sind. Doch die Anstrengung, Böll, der 1985 im Alter von 67 Jahren starb, wieder lesbar zu machen, würde sich gewiss lohnen. Denn seine Geschichten und ihre Figuren hätten unserer Gegenwart mit ihrer sozialen Ungleichheit, ihren undemokratischen Tendenzen und dem bewusstlosen Konsum durchaus etwas zu sagen.
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Zugang zu Böll und seinem Werk bieten zwei neue Biografien:
Jochen Schubert: Heinrich Böll. Theis, 344 S., 29,95 ¤
Ralf Schnell: Heinrich Böll und die Deutschen. Kiepenheuer & Witsch, 240 S., 19 ¤
In den 70er Jahren geriet Böll selbst unter Beschuss