Aichacher Nachrichten

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (35)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Bis dahin war ich von Tommys Geschichte so sehr gefesselt, dass ich den eigentlich­en Anlass unseres Gesprächs vergessen hatte. Erst bei seiner Bemerkung, jetzt seien wir ja „größer“geworden, erinnerte ich mich an meinen ursprüngli­chen Auftrag.

„Hör zu, Tommy“, sagte ich, „darüber müssen wir ausführlic­h reden, bald. Das ist wirklich interessan­t, und ich kann mir vorstellen, dass es dir ziemlich an die Nieren geht. Aber so oder so wirst du dich ein bisschen mehr zusammenre­ißen müssen. Wenn der Sommer vorbei ist, gehen wir von hier fort. Du musst irgendwie dein Leben wieder in Ordnung bringen. Und eine Sache kannst du jetzt gleich direkt zurechtbie­gen. Ruth hat mir gesagt, ihr wärt jetzt quitt, und sie sei bereit, es noch mal mit dir zu probieren. Das ist doch eine gute Chance für dich. Lass sie dir nicht entgehen.“

Er schwieg ein paar Sekunden, dann sagte er: „Ich weiß nicht, Kath. Es gibt so viel anderes, das mir im Kopf herumgeht.“

„Jetzt hör doch mal, Tommy. Du hast wirklich Glück. Von allen Mädchen hier steht ausgerechn­et Ruth auf dich. Wenn wir hier fort sind und du mit ihr zusammen bist, hast du ausgesorgt. Sie ist die Beste, und solang du mit ihr zusammen bist, ist alles gut. Sie sagt, sie will einen Neuanfang. Also verdirb’s dir nicht.“

Ich wartete, aber Tommy schwieg, und ich spürte wieder etwas wie Panik in mir aufsteigen. Ich beugte mich ein Stück weit vor: „Hör zu, du Idiot, du wirst nicht mehr viele Chancen kriegen. Ist dir eigentlich klar, dass wir nicht mehr sehr lang so zusammen sein werden?“

Zu meiner Überraschu­ng gab Tommy ganz ruhig und überlegt Antwort – das war eine Seite an ihm, die in den folgenden Jahren immer deutlicher zum Vorschein kommen sollte.

„Das ist mir sehr wohl klar, Kath. Genau das ist der Grund, warum ich nicht wieder Hals über Kopf zu Ruth zurücklauf­en kann. Wir müssen über den nächsten Schritt sehr genau nachdenken.“Dann seufzte er und sah mich offen an. „Es stimmt schon, Kath. Bald werden wir von hier weggehen. Es ist kein Spiel mehr. Wir müssen es uns genau überlegen.“

Mir hatte es plötzlich die Sprache verschlage­n, und ich saß nur da und rupfte Klee. Ich spürte seinen Blick auf mir, aber ich sah nicht auf. Wahrschein­lich wäre es noch eine ganze Weile so weitergega­ngen, aber wir wurden unterbroch­en. Vielleicht kamen die beiden zurück, mit denen er vorhin Fußball gespielt hatte, vielleicht schlendert­en andere vorbei und setzten sich zu uns – jedenfalls war unsere kleine Aussprache beendet, und ich ging mit dem Gefühl fort, dass ich nicht getan hatte, was ich mir vorgenomme­n hatte – dass ich Ruth irgendwie im Stich gelassen hatte.

Ob mein Gespräch mit Tommy irgendeine Wirkung hatte, erfuhr ich nie, denn schon am nächsten Tag platzte die Bombe. Es war mitten am Vormittag, und wir hatten wieder mal „Gesellscha­ftskunde“. Das war praktische­r Unterricht mit Rollenspie­len – wir stellten Kellner im Café dar, Polizisten und so weiter. Das machte uns Spaß und beunruhigt­e uns zugleich, so dass wir immer ziemlich überdreht waren. Als die Stunde vorbei war und wir nacheinand­er das Klassenzim­mer verließen, kam Charlotte F. herbeigest­ürmt, und im Handumdreh­en hatte die Neuigkeit die Runde gemacht: Miss Lucy ging von Hailsham fort. Mr. Chris, der die Stunde gegeben hatte und der es ja gewusst haben musste, entfernte sich hastig und schuldbewu­sst, bevor wir Fragen stellen konnten. Zuerst hatten wir Zweifel, ob Charlotte vielleicht nur ein Gerücht weitergab, aber je mehr sie uns erzählte, desto klarer war uns, dass sie die Wahrheit sagte. Am Morgen hatte sich eine der anderen Senior-Klassen zum Musikunter­richt bei Miss Lucy in Zimmer 12 eingefunde­n, doch an ihrer Stelle hatte Miss Emily sie erwartet und ihnen mitgeteilt, sie vertrete Miss Lucy, die momentan verhindert sei. Während der nächsten zwanzig oder dreißig Minuten verlief alles ganz normal. Aber auf einmal brach Miss Emily ihren Beethoven-Vortrag ab – anscheinen­d mitten im Satz – und verkündete, Miss Lucy habe Hailsham verlassen und werde nicht wiederkomm­en. Der Unterricht endete vorzeitig, denn Miss Emily enteilte mit sorgenzerf­urchter Stirn, und kaum hatten die Schüler das Klassenzim­mer verlassen, verbreitet­e sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer. Ich machte mich sofort auf die Suche nach Tommy, weil ich der Meinung war, er sollte es unbedingt zuerst von mir erfahren. Aber als ich in den Hof kam, war es schon zu spät: Da stand Tommy auf der gegenüberl­iegenden Seite, am Rand einer Gruppe von Jungen, und nickte, während die anderen lebhaft, sogar aufgeregt durcheinan­der redeten; aber seine Augen wirkten leer. Am selben Abend taten sich Tommy und Ruth wieder zusammen, und ein paar Tage später kam Ruth zu mir und dankte mir, dass ich „alles so gut hingekrieg­t“hätte. Ich sagte, ich hätte wohl kein großes Verdienst daran, aber davon wollte sie nichts hören. Jetzt hätte ich einen großen Stein bei ihr im Brett. Und so blieb es, mehr oder weniger, bis zu unserem letzten Tag in Hailsham.

Kapitel 10

Manchmal, wenn ich auf einer langen gewundenen Straße durch Sumpfland fahre oder vielleicht auch an Reihen gepflügter Äcker entlang, Meile um Meile unter einem endlosen, grauen, immer gleichen Himmel, ertappe ich mich dabei, dass ich an den Aufsatz denke, den ich damals schreiben sollte, als wir in den Cottages waren. In unserem letzten Sommer hatten die Aufseher ab und zu mit uns über unsere Aufsätze gesprochen und uns bei der Wahl eines Themas zu helfen versucht, das uns bis zu zwei Jahre angemessen beschäftig­en würde. Aber irgendwie nahm niemand diese Essays so recht ernst – vielleicht lag es am Verhalten der Aufseher –, und auch wenn wir unter uns waren, redeten wir selten darüber. Ich weiß noch, dass ich zu Miss Emily ging, um ihr zu sagen, ich hätte mich für das Thema viktoriani­sche Literatur entschiede­n, woran ich in Wahrheit kaum einen Gedanken verschwend­et hatte. Obwohl sie das wusste, musterte sie mich nur mit ihrem bohrenden Blick und sagte nichts weiter. Sobald wir dann in den Cottages waren, gewannen die Aufsätze eine neue Bedeutung. In den ersten Tagen – bei manchen dauerte es noch viel länger – war es, als klammerte sich jeder an seinen Aufsatz, diese letzte Aufgabe in Hailsham, wie an ein Abschiedsg­eschenk von unseren Aufsehern. Mit der Zeit verblasste­n sie, und wir dachten nicht mehr daran, aber für eine Weile waren uns diese Arbeiten in der neuen Umgebung wie ein Rettungsan­ker. Wenn ich heute an meinen Essay denke, dann meist so, dass ich ihn im Geist umschreibe: Zum Beispiel denke ich mir einen ganz neuen Ansatz aus oder konzentrie­re mich auf andere Autoren, andere Romane.

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