Frohe Weihnachten in Jerusalem
In Jerusalem gibt es tagsüber keinen Moment der Ruhe. In der Altstadt tummeln sich Einheimische wie Menschen aus aller Welt – Touristen, Händler, Pilger. Sie schlendern zwischen überladenen Ständen mit bemalten Tellern, Stoffbergen und Türmen aus Gewürzen und Trockenfrüchten herum, feilschen, plaudern. Manche verlieren sich im engen Netz verwinkelter Gassen. Einige geben es auf, das Gewirr aus arabisch-hebräischen Straßenschildern zu entschlüsseln, sitzen dann verwundert dreinblickend auf den Treppen. Kameras blitzen und klicken. Das begehrteste Motiv ist, Vertreter der großen Weltreligionen gemeinsam auf ein Foto zu bekommen: einen ultraorthodoxen Juden, in Schwarz und Weiß gekleidet mit Schläfenlocken und Hut, eine verschleierte Muslima, einen christlichen Mönch. Meist verschwinden die Gläubigen aber rasch in der ruhelosen Menge.
Wenige Stunden zuvor, noch am Morgen, ist Jerusalem eine andere Welt. Stille umhüllt die Altstadt mit ihren Torbögen, den Winkeln und Plätzen. Religiöse Symbole finden sich in der Stadt nicht viele, hier eine Chanukkia, ein acht- oder neunarmiger Kerzenleuchter, dort ein kleines Schild, das zum Tempelberg weist. Weihnachtsdekoration? Beleuchtung, Tannenbäume, glänzende Christbaumkugeln? Weit gefehlt. Die Gitter vor den Läden sind he- runtergelassen, die öffentlichen Plätze leer. Nur wenige Menschen sind unterwegs. Ein Paar geht durch die Gassen zur Messe in der Grabeskirche. Einige Straßen weiter versammeln sich Juden an der Klagemauer, Muslime wandern zum Tempelberg zu ihrem ersten Gebet.
Diese friedliche Stimmung fasziniert den Prior der deutschsprachigen Benediktinerabtei in Jerusalem, Pater Nikodemus Schnabel. Der Mönch trägt eine klassische schwarze Kutte, sein Blick ist freundlich über dem buschigen Bart. „Weihnachten ist eine Zeit, die den tiefreligiösen Menschen gehört.“Davon gibt es hier viele – aus verschiedenen Glaubensrichtungen. Obwohl in der Stadt allein aus dem Christentum ganze 50 Konfessionen existieren, sind Christen eine verschwindende Minderheit. Ihre Zahl liegt unter zehntausend, weniger als zwei Prozent der Stadtbevölkerung.
Um 10 Uhr läuten die Kirchenglocken der DormitioAbtei, der Heimat der Benediktinermönche auf dem Berg Zion unweit südlich der Altstadt. Die Gemeinde, die am dritten Advent in der Basilika zusammenkommt, ist klein, viele Stühle bleiben leer. Eine von den 40 Besuchern ist Alexandra Erath. Die 21-jährige Psychologiestudentin findet Inspi- ration in der Messe, vermisst aber den Advent, wie die Konstanzerin ihn aus der Heimat kennt. „Ich bin überrascht, wie sehr die Umwelt uns da beeinflusst“, sagt sie. „Hier kommt einfach keine Weihnachtsstimmung auf.“Doch sie weiß sich zu helfen. „Ich habe mir aus Olivenzweigen einen Adventskranz gebastelt, mit Chanukka-Kerzen“, sagt sie und schmunzelt.
Pater Nikodemus ist anderer Meinung: „Hier ist der Advent noch Advent“, meint der deutsche Geistliche, der seit vier Jahren in Jerusalem lebt. „Es ist eine Zeit der Stille und Vorbereitung.“Der „verweihnachtlichte“Advent wie in Deutschland mache es einfach, sich in der allgemeinen Vorfreude treiben zu lassen. Hier auf dem Zionsberg sei das Ganze ein bewusster, innerer Prozess. Das äußere sich durch reichere Texte, Gesänge, Psalmen und eine aufwendigere Gestaltung der Gottesdienste. Pater Nikodemus verdeutlicht: „Jeder Tag ist ein Gesamtkunstwerk.“In der vordersten Reihe der Abtei haben zwei pensionierte Brüder aus Frankreich Platz genommen. Sie verbringen einen Monat in Israel. „Es ist einzigartig, hier beten zu können. Wir sind ganz nah am Ursprung unserer Religion“, sagt einer der Brüder. Die Christmette wollen sie in der Geburtskirche im nahe gelegenen Bethlehem feiern, der bedeutendste Ort für gläubige Christen. Der Überlieferung nach ist die Kathedrale die Geburtsstätte Jesu. Vor einem halben Jahr haben sie bereits die begehrten Karten reserviert. Mittlerweile gibt es keine mehr.
Doch warum ist die Messe in der Basilika an diesem Morgen so spärlich besucht? Warum drängen sich keine Massen in die Grabeskirche? Pater Nikodemus erklärt nach seiner Predigt: Weihnachten ist kein Pilgerfest. „Die Besucher der Messe heute waren hauptsächlich Mitglieder der Kerngemeinde. Alle Christen, die können, feiern Weihnachten mit ihrer Familie.“Doch spätestens zu Silvester kommen die großen Reisegruppen zurück, vor allem an Ostern sind die Pilgerorte überlaufen.
Bereits nach wenigen Stunden in der Stadt wird eines deutlich: Energie liegt in der Luft, manchmal Spannung, zu jeder Zeit ist es intensiv. Das hat Pater Nikodemus in seiner Entscheidung beeinflusst, für immer in Jerusalem bleiben zu wollen. „Die Stadt und ihre Menschen sind vernarbt“, sagt er. „Aber sie tragen keine Maske, sind immer ehrlich. Mit Jerusalem gibt es keinen Small Talk.“
Eine Herausforderung sieht der Mönch im Umgang mit der politischen Situation im Land: Vorurteile, gerade von außen, würden größer, die Mauern höher. „Die Altstadt ist zu universal, um in einem nationalen Rahmen verengt zu werden.“Nur ein internationaler Status würde ihrer Vielfalt gerecht werden. Den Beginn sieht er in den Einrichtungen selbst, so arbeitet der Geistliche an seiner eigenen Offenheit. Pater Nikodemus hat ein Lächeln aufgesetzt. Eines der besten Beispiele sei Weihnachten. An Heiligabend sei die Kirche überfüllt – mit Juden. „Viele kennen ,Weihnukka’ als von Christen übernommene Tradition aus ihren Heimatländern und feiern das Fest mit uns zusammen.“