Babylon am Boden
„Nabucco“handelt am Theater Ulm weniger von Religion und Nation als von menschlichen Schwächen
Ulm Bei diesem „Nabucco“beginnt der Krieg schon bei der Ouvertüre. Da streiten sich zwei Priester, wer den richtigen Gott anbetet. Zuerst balgen sie sich, dann prügeln sie sich, dann greifen sie zu immer größeren Waffen. Zum Finale, wenn auch das Orchester musikalisch aus allen Rohren feuert, stehen sich die Kontrahenten mit Maschinenpistole und Handgranate gegenüber.
Komödiantisch, fast stummfilmartig kommt der Einstieg bei Nilufar K. Münzings zeitgemäßer und sehenswerter Inszenierung von Giuseppe Verdis frühem Meisterwerk am Theater Ulm daher. Was allerdings nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass es in der Oper um ein ernstes Thema geht. Bei der Uraufführung 1842 verstanden die Italiener die Babylonische Gefangenschaft der Israeliten als eine Metapher für ihre eigene politische Situation, der Gefangenenchor „Va, pensiero“wurde zu einer Hymne für die nationale Einheit. Eigentlich ist „Nabucco“jedoch ein Stück über den Wettstreit zweier Religionen – und am Ende huldigen alle dem Gott Israels, selbst der babylonische König Nabucco (Nebukadnezar) und seine sterbende Tochter Abigaille. Eine Bekehrungsbotschaft, die angesichts der religiös-politischen Konflikte im Nahen Osten kaum in die Gegenwart passt. Dort gibt es derzeit eher zu viel Religion als die falsche.
Die Ulmer Inszenierung folgt nicht der Schwarz-Weiß-Zeichnung des auf dem alttestamentlichen Buch Daniel beruhenden Librettos, sondern steht den Eiferern beider Seiten kritisch gegenüber. In einer weitgehend leeren, unter einer Art Mondscheibe liegenden Szenerie (Bühne: Britta Lammers) stehen sich statt zweier Religionen zwei Lebensentwürfe entgegen: Hier die Israeliten als naturverbundene Seelenmenschen in wallenden Gewändern, dort die Babylonier als entfremdete Technologie-Junkies, die mit Barcodes auf ihren schwarzen Kapuzensweatern markiert sind (Kostüme: Uta Gruber-Ballehr) und ständig über Tablets wischen. Das Göttliche wiederum tritt in Gestalt eines weiß gekleideten Mädchens auf: Es ist weder Baal noch Jehova, sondern einfach nur ein unschuldiges Kind.
Noch mehr interessiert sich „Nabucco“– nach der Freiluft-„Aida“bereits der zweite Ulmer Verdi binnen weniger Monate – aber für die Beziehung zwischen Nabucco und seiner Tochter Abigaille, die mit den Ensemblemitgliedern Kwang-Keun Lee und Edith Lorans vorzüglich besetzt sind. Der Koreaner Lee gibt dem Monarchen zwischen Hochmut, Wahn und Schwäche und trumpft gesanglich sowohl mit Fülle als auch mit Zerbrechlichkeit auf – eine herausragende Leistung. Lorans’ manchmal etwas nervöser Sopran strahlt feurig-hell in ihrem Furor – und glimmt sanft in Momenten des Schmerzes. Wie menschlich diese Figuren gezeichnet sind, gehört zu den größten Stärken dieser Inszenierung. Wobei die anderen Partien keineswegs abfallen: Mezzosopran I Chiao Shih (Fenena) und DauerGasttenor Eric Laporte (Ismaele) fesseln mit ihrer Sensibilität, Bass Martin Gäbler (Zaccaria) konturiert den Hohepriester der dunkel und zwiespältig.
Dann ist da natürlich noch der eigentliche Hauptdarsteller von „Nabucco“: der Chor. Die 41 Männer und Frauen von Theater- und Extrachor (Einstudierung: Hendrik Haas) präsentieren sich auf so hohem Niveau, dass man bisweilen noch einmal zehn Sänger auf der Bühne wähnt. Wobei Volumen nicht alles ist: Beim Gefangenenchor gelingt dem Chor ein so einfühlsamer Vortrag, dass dieser Gassenhauer der Opernmusik als Hymne für ein friedliches Leben im Einklang mit der Natur funktioniert.
Entsprechend groß fällt am Ende der Premiere der Applaus aus, wobei auch die Solisten und das Regieteam mit Bravo-Rufen bedacht werden. Ebenso wie das Philharmonische Orchester, das unter der Leitung des 1. Kapellmeisters Joongbae Jee alle Facetten des Werkes lustvoll auskostet. „Nabucco“ist der beste Verdi, den Ulm in diesem Jahr erlebt hat. Und die „Aida“war auch schon sehr gut.
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Termine Wieder heute, Samstag, 20 Uhr im Großen Haus, danach am 28. Dezember, am 5., 7., 12., 19. und 27. Ja nuar, am 20. und 28. Februar, am 18. März sowie am 8. und 11. April. Israeliten