Ein Krankenhaus reagiert auf den Pflegenotstand
In der Donauwörther Klinik war es irgendwann nicht mehr möglich, einen Schichtplan aufzustellen. Es fehlten zu viele Pflegekräfte. Jetzt greifen die Verantwortlichen zu besonderen Maßnahmen, die positive Aufmerksamkeit bringen
Donauwörth Geschlossen. Prof. Alexander Wild drückt wie zum sichtbaren Beweis die Klinke des Patientenzimmers herunter. Vergeblich. Die Tür geht nicht auf. Der Raum ist ja auch leer. Wie fünf weitere Zimmer. 18 von 40 Betten sind aktuell nicht belegt auf Station 8, der Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Wirbelsäulentherapie an der DonauRies Klinik Donauwörth. Seit etwa zwei Wochen sei das schon so. Und nicht nur auf dieser Station bleiben Betten gezielt leer. Weil so viele Pflegekräfte im Haus fehlen. Weil die Pflegekräfte so dringend eine Entlastung forderten.
Die Schließung von Zimmern sind drastische Maßnahmen. Landrat Stefan Rößle weiß das. Er ist der Chef des Verwaltungsrates der Kliniken Donauwörth und Nördlingen. Er hat dies mitveranlasst. Weil er sich zum Handeln gezwungen sah. Nun sitzt er an einem langen Tisch in seinem Büro im Landratsamt. Der Offene Brief im September habe ihn überrascht. Vor allem aber geärgert.
Ein Brandbrief von Verdi brachte Bewegung
Stolz sei der Verwaltungsrat gewesen. Endlich habe das kommunale Krankenhaus wieder schwarze Zahlen geschrieben. Anders als andere Kliniken. Und dann das: ein öffentlicher Brandbrief. Verfasst von den Pflegekräften und der Gewerkschaft Verdi. Thema: der Pflegenotstand.
Kritisiert wurde, dass Verwaltungsrat und auch der Vorstand die Missstände gar nicht wahrnehmen würden. Gefordert wurde für die Klinik Donauwörth die kurzfristige Sperrung von 48 Betten, die Sperrung eines OP-Saals und ein „verbindlicher Zeitplan für eine psychische Gefährdungsbeurteilung“. Stefan Jagel, bei Verdi zuständig für den Gesundheitsbereich, sagt: „Wir konnten so nicht mehr weitermachen.“Immer öfter sei in Donauwörth eine Pflegekraft für über 40 Patienten zuständig gewesen. Es sei einfach Schicht im Schacht gewesen.
Rößle wurmte die Kritik zwar. Doch er nahm sie ernst. Und er wollte sich selbst ein Bild machen. Eines Morgens stand er unangemeldet in der Klinik. Er sprach mit Pflegekräften. Was er zu hören bekam, habe ihn tief erschüttert: „Mir war wirklich nicht klar, in welcher ausweglosen Lage sich teilweise die Pflegekräfte sehen.“Einen „Wahnsinnsdruck“spürte er.
Den spürt Pflegedienstleiterin Michaela Deisenhofer schon lange. In ihrem Büro in der Klinik hängt an der Wand ein Lebkuchenherz. „Ein Küsschen für unsere Chefin“ist in Zuckerguss darauf geschrieben. Wer der 32-Jährigen zuhört, ahnt, warum sie so ein Herz erhalten hat. Da sitzt jemand, der zuhört. Mitfühlt. Tröstet. Weinend, völlig verzweifelt sitzen Pflegekräfte regelmäßig vor ihr, erzählt sie. Sie kennt die Arbeitsbedingungen auf den Stationen. Sie hat selbst in Donauwörth die Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, anschließend dort gearbeitet. Sukzessive habe sich die Lage für die Pflegekräfte verschlechtert. Aller- dings nicht nur in Donauwörth. Denn die Fallpauschalen, die 2004 eingeführt wurden und die aus ihrer Sicht die Hauptursache der Misere sind, veränderten bundesweit die Arbeit. Allein der Dokumentationsaufwand für Patienten hat sich ihrer Einschätzung nach dadurch um ein Vielfaches erhöht, der Druck auf Pflegekräfte massiv zugenommen.
Diese detaillierten Dokumentationspflichten sind es auch, die Wilma Heiß als Erstes nennt auf die Frage, was ihre Arbeit erschwert. Jeden Handgriff am Patienten müsse sie in einem umfangreichen Computerprogramm festhalten. Viel Zeit, die am Patienten fehle. Zusammen mit ihrem Kollegen Stephan Schulz und Pflegeschülerin Antonia Kunze sitzt sie in einem kleinen Raum auf Station 8. Brote werden belegt. Es ist nach 18 Uhr. Mitten in der Spätschicht also. Um 21.10 Uhr beginnt die Nachtschicht. In der Früh wird in der Regel mit einem Team von vier Leuten begonnen, dann sollen zwei arbeiten, in der Nacht ist nur noch einer da. Gerade, dass nachts nur eine Pflegekraft allein für oft über 40 Patienten zuständig ist, empfinden sie als inakzeptabel. Es müssten zwei sein. Schließlich kommen auch nachts frisch operierte Patienten auf die Station. Schließlich treten auch nachts Komplikationen auf.
Schon jetzt schlägt ständig der Piepser bei Wilma Heiß und Stephan Schulz an. Mal ist ein Malheur passiert, und die Windel muss gewechselt, die Frau gewaschen werden. Mal braucht ein Patient Unterstützung beim Gang zur Toilette. Immer reagieren sie freundlich, machen sich sofort auf den Weg. Dazwischen berichten sie von ihrem Arbeitsalltag. Wie aufwendig es beispielsweise sei, ständig neue Patienten aufzunehmen. Da heute Patienten viel kürzer in der Klinik bleiben, ist der Wechsel enorm. Sie berichten von älter werdenden und damit oft pflegebedürftigeren Patienten. Von gestiegenen Anforderungen. „Wir sind zwar nur noch halb so viele wie früher, dafür arbeiten wir doppelt so viel“, bringt es Wilma Heiß auf den Punkt.
Die 57-Jährige ist eine Krankenschwester, wie man sie sich vorstellt. Eine Frau mit viel Empathie für Menschen. Eine, die helfen kann und will. Eigenschaften, die auch ihren Kollegen Schulz, 27, auszeichnen. Schließlich ist es ein besonderer Beruf. Einer, den nicht jeder machen kann. „Es sind alles Menschen mit einer sozialen Ader und einem extrem hohen Verantwortungsbewusstsein“, sagt Pflegedienstleiterin Deisenhofer. Ist das nicht auch Teil des Problems? Dass sich zu viele zu lange darauf verlassen haben, dass die Pflegkräfte schon weiter schuften? Michaela Deisenhofer nickt. „Klar ist es so. Uns fehlt ja auch eine Lobby.“Ärzte haben eine Kammer. „Wir haben nichts.“
Dennoch kam in Donauwörth der Punkt, wo selbst die verantwortungsbewusstesten Pflegekräfte nicht mehr mitmachten. Die Zahl der Patienten sei kontinuierlich gestiegen. Aber immer häufiger habe man keine Schichtpläne mehr erstellen können. Weil so viele Pflegekräfte fehlten. Und kein Ausfallmanagement da sei. Landrat Rößle sagt, dass allein im ersten Halbjahr sechs Pflegekräfte gekündigt hatten. Besonders hart habe ihn getroffen, dass es langjährige Pflegekräfte waren, die das Donauwörther Krankenhaus verließen. „Ein Alarmzeichen.“Daher sei eine Million Euro investiert worden, um insgesamt 20 Stellen zu schaffen. Keine einfache Aufgabe. „Der Markt für Pflegekräfte ist leer gefegt“, sagt Rößle. Aber es sei gelungen, allein für Donauwörth für 2018 zwölf Pflegekräfte einzustellen.
Und sie haben sich dort zu einem bemerkenswerten Schritt entschlossen: „Wir haben im Verwaltungsrat den Grundsatz beschlossen, dass sich künftig die Zahl der Patienten an der Zahl der vorhandenen Pflegekräfte orientieren muss“, sagt Rößle. Immer neue Patienten einfach auf die Stationen zu schieben und den Pflegekräften zu überlassen, diese gängige Methode werde nicht mehr geduldet. Ausnahme bleiben Notfälle. Planbare Operationen müssten gegebenenfalls, wie Rößle erklärt, verschoben werden. Für Verdi-Mann Stefan Jagel ein Novum, das die Donauwörther Klinik bundesweit auszeichne. Dass ein Krankenhaus bewusst auf Patienten und damit auf Geld verzichtet, um seinen Pflegekräften die Arbeitsbedingungen zu erleichtern, suche seinesgleichen.
Gerade auch für die Ärzte sei dies kein leichter Schritt. „Die Ärzte verdienen dadurch weniger“, erklärt Rößle. Überzeugungsarbeit sei nötig gewesen. Aber dann hätten viele Verständnis gehabt. Auch Prof. Alexander Wild, der Direktor der Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Wirbelsäulentherapie. Denn dass zu wenig Pflegekräfte da sind, das bestätigen einige Ärzte. Assistenzärztin Chiara Piva etwa. Oder Oberarzt Markus Heinrich. Was Wild dagegen nicht gefällt, ist das Wort „Pflegenotstand“. Zu leicht könnten sich Patienten ängstigen. Das wäre aber völlig unangemessen. Zumal gerade das Donauwörther Krankenhaus bei Patientenumfragen Zufriedenheitswerte von über 97 Prozent erhalte.
Sehr zufrieden ist Renate Nerlich. Die 79-Jährige liegt in einem geräumigen Einzelzimmer und lobt das Pflegepersonal. Für den Mangel an Pflegekräften macht sie vor allem die Medien verantwortlich. Ständig werde nur schlecht über den Beruf geschrieben. Anders sieht es das Ehepaar Bschorer. Rotraud Bschorer schiebt ihren Mann Kaspar im Rollstuhl den Gang entlang. Richtig aufregen kann sie sich über den Umgang mit Pflegekräften. Dass diese engagierten Menschen so gehetzt und so schlecht bezahlt werden, sei inakzeptabel. Was die Pflegekräfte bräuchten: „Eine starke Lobby“, sagt Kaspar Bschorer. So wie die Bauern ihren Bauernverband.
Landrat Rößle weiß, dass mit allen Maßnahmen, die im Donauwörther Krankenhaus nun versucht werden, die Ursache des Problems nicht behoben wird. „Für eine optimale Versorgung reicht der aktuelle Pflegeschlüssel nicht aus.“Viel mehr Pflegekräfte seien nötig. Doch dafür sei ein „Paradigmenwechsel“in der Pflege nötig. Das aber sei Sache der Bundespolitik. Denn dann müsse entweder mehr Geld in das System fließen oder das vorhandene Geld anders verteilt werden. So lange will und kann man in Donauwörth aber nicht warten. „Wir befinden uns in einem Prozess“, sagt Rößle. Und der brachte viel positive Aufmerksamkeit. Es habe sich herumgesprochen, dass die Klinik in Donauwörth ihre Pflegekräfte gezielt unterstützt. Dafür bleiben Patientenzimmer vorübergehend auch einmal geschlossen.