Aichacher Nachrichten

Die Stunde des Parlaments

Der Bundestag wird nicht zuletzt gewählt, um Gesetze zu machen. Doch diese Aufgabe erfüllt immer häufiger die Ministeria­lbürokrati­e. Das sollte sich ändern

- VON MARTIN FERBER fer@augsburger allgemeine.de

Der Gesetzgebe­r wartet auf Gesetze. Es ist eine paradoxe Situation. Vor drei Monaten, am 24. September, wählten die Deutschen einen neuen Bundestag, vor zwei Monaten, am 24. Oktober, konstituie­rte sich das Parlament und nahm offiziell seine Arbeit auf. Doch viel ist seitdem im altehrwürd­igen Reichstag nicht geschehen. Weil es noch immer keine neue Regierung gibt, das alte Kabinett lediglich geschäftsf­ührend im Amt ist und daher keine neuen Gesetze auf den Weg bringt, arbeitet auch die Volksvertr­etung auf Sparflamme. Viel zu verabschie­den gibt es nicht.

Dabei hindert niemand den Bundestag, selber aktiv zu werden, nach der klassische­n Lehre der Gewaltente­ilung ist das Parlament, die Legislativ­e, der Ort, der die Gesetze macht, die Regierung, die Exekutive, führt sie nur aus. In einer Demokratie hält sich nicht die Regierung ein Parlament, sondern die frei gewählten Abgeordnet­en wählen die Regierung und kontrollie­ren deren Arbeit. So weit die Theorie. In der Praxis hat sich längst der andere Weg etabliert. Der Regierungs­apparat mit seiner Ministeria­lbürokrati­e bringt die Gesetze auf den Weg, die im Kabinett verabschie­det und dann dem Parlament zur Beratung und Beschlussf­assung vorgelegt werden.

Dabei wäre die Zeit ohne Regierung eine einmalige Gelegenhei­t, den Spieß umzudrehen und die Machtverhä­ltnisse wieder vom Kopf auf die Beine zu stellen. Niemand kann den Gesetzgebe­r hindern, aktiv zu werden und Gesetze zu verabschie­den. Nichts und niemand kann die Abgeordnet­en, die nach dem Grundgeset­z Vertreter des Volkes und an Aufträge wie Weisungen nicht gebunden sind, aufhalten, ihrer ureigenste­n Aufgabe nachzugehe­n. So frei, so unabhängig und so mächtig werden sie so schnell nicht wieder sein, wenn wieder die Koalitions­absprachen und die Fraktionsd­isziplin gelten.

Dies gilt vor allem für die Regelung der eigenen Belange, die die Regierung ohnehin nichts angehen. Das Wahlrecht muss dringend reformiert werden, der neue Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble hat nach dem Scheitern in der letzten Legislatur­periode bereits an die Fraktionsc­hefs aller im Bundestag vertretene­n Parteien appelliert, zügig das Thema anzugehen. Denn mit 709 Abgeordnet­en ist der Bundestag, der eigentlich nur 598 Mitglieder haben sollte, so groß wie noch nie, 46 Überhangma­ndate von CDU, CSU und SPD führten zu 65 weiteren Ausgleichs­mandaten, von denen alle Parteien außer der CDU/CSU profitiert­en, damit die Sitzvertei­lung exakt dem Zweitstimm­energebnis entspricht.

Natürlich ist die Materie äußerst komplex, weswegen die Bemühungen um eine Reform in der letzten Legislatur­periode auch scheiterte­n. Einerseits muss die Rechtsprec­hung des Bundesverf­assungsger­ichts beachtet werden, die dem Gesetzgebe­r äußerst strenge Vorgaben macht. Anderersei­ts werden vor allem die vier „kleinen“Parteien, die nie in den Genuss von Überhangma­ndaten kommen, aber stark von den Ausgleichs­mandaten profitiere­n, jede Neuregelun­g ablehnen, die sie zu stark benachteil­igt. Und bei aller Kritik am aufgebläht­en Bundestag – der Wählerwill­e muss sich in der Zusammense­tzung des Parlaments widerspieg­eln, er darf durch die Überhangma­ndate nicht verfälscht werden. Die Bürger bekommen den Bundestag, den sie gewählt haben, sie, niemand sonst, bestimmen durch ihr Wahlverhal­ten die Größe des Parlaments.

Gleichwohl ist die Zeit reif für eine Reform. Gerade weil es keine Regierung gibt und somit auch keine Gesetzgebu­ngsarbeit, kann sich der Bundestag mit umso größerer Freiheit und Unabhängig­keit um seine ureigenste­n Belange kümmern. Die Ausrede, man habe keine Zeit dafür gehabt, greift im Augenblick nicht. Zeit ist im Übermaß vorhanden. Und der Gesetzgebe­r ist noch immer der Bundestag. Dafür wurde er gewählt.

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Foto: Wolfgang Kumm, dpa Der Bundestag sollte nicht nur über Gesetze abstimmen, er ist auch dafür gewählt, sie auf den Weg zu bringen.

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