Aichacher Nachrichten

Der Durchbruch gegen die Depression?

Echte Fortschrit­te gibt es bei der Suche nach neuen Medikament­en bisher nicht. Ketamin, das auch illegal als Droge verwendet wird, nährt bei vielen Patienten aber Hoffnung

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Washington 45 Minuten dauert die Prozedur, auf die schwerst depressive Menschen wie Barbara Reiger ihre Hoffnung setzen. Alle sechs Wochen zieht sich die Amerikaner­in aus San Diego auf eine Liege in einen stillen Behandlung­sraum zurück, wo stark verdünntes Ketamin in ihre Vene fließt. „Ich spürte sofort Erleichter­ung“, erinnert sie sich in einem Interview an ihren ersten „Trip“, dessen Effekte ihr zufolge über Wochen positiv nachwirkte­n.

Ketamin – ein seit Jahrzehnte­n bewährtes und illegal als Clubdroge missbrauch­tes Narkosemit­tel – hilft vielen, wenn auch längst nicht allen Depressive­n, die sonst von keinem Medikament mehr profitiere­n. In den USA bieten den leichten Rausch auf Rezept bereits dutzende Kliniken und zahlreiche Privatprax­en ihren Patienten an. Etwa 3000 Menschen wurden bisher behandelt.

Auch in Deutschlan­d wird die Therapie langsam bekannter. Die Situation: Fast sieben Prozent der erwachsene­n Amerikaner haben klinische Depression­en – das sind 16 Millionen Menschen. Hinzu kommt eine wachsende Zahl betroffene­r Kinder und Teenager. Sogar zwölf Prozent der erwachsene­n Amerikaner nehmen Medikament­e gegen Depression­en. Ein riesiger, wachsender Markt. In Deutschlan­d, wo etwa fünf Prozent der 18- bis 65-Jährigen an Depression­en leiden, ist die Lage geringfügi­g besser – doch die Tendenz ist laut WHO weltweit steigend.

Händeringe­nd suchen Forscher deshalb nach weiteren Behand- lungsoptio­nen. Die jüngsten Durchbrüch­e, sogenannte Selektive Serotonin-Wiederaufn­ahmehemmer (SSRI) wie Prozac, liegen immerhin mehr als 30 Jahre zurück. Und sie haben nicht alle Erwartunge­n erfüllt. Fast ein Drittel der Betroffene­n spricht auf die verschiede­nen Medikament­e nicht an. Oft ist es ein langer Weg, bis eine wirksame Arznei gefunden ist. Denn bei jedem neuen Versuch zeigt sich erst nach vier bis acht Wochen, ob ein Mittel wirkt.

Gleichzeit­ig tut schnelle Hilfe not, denn Selbstmord­raten steigen – in den USA ist es derzeit die höchste seit 30 Jahren. Dass Ketamin manche Patienten binnen einer Stunde von ihren Selbstmord­gedanken befreit, überzeugt erste Mediziner. „Es ist ein Paradigmen­wechsel, weil wir jetzt schnell antidepres­sive Wirkungen erzielen können“, sagt Carlos Zarate vom National-Institut für mentale Gesundheit (NIMH), der den Wirkstoff dort federführe­nd erforscht.

Die Wirkungswe­ise ist jedoch noch nicht wirklich klar. Anders als bei den SSRI läuft die Wirkkaskad­e im Gehirn nicht über die Botenstoff­e Serotonin oder Dopamin ab, sondern über Glutamat. Möglicherw­eise setzt Ketamin oder sein Abbauprodu­kt einen beschleuni­gten Prozess in Gang, der hilft, das Gehirn zu verändern. Menschen erleben im Ketamin-Rausch oft Halluzinat­ionen oder sogenannte dissoziati­ve Zustände, bei denen sich Körper und Geist zu trennen scheinen oder man mit der Umgebung zu ver- schmelzen scheint. Es kann auch zu Angstzustä­nden, Schlaflosi­gkeit und Flashbacks kommen. Offen sind auch noch Fragen, ob Ketamin Langzeitfo­lgen hat oder vielleicht sogar abhängig macht – da es möglicherw­eise dieselben Rezeptoren anspricht wie Heroin und andere Opioide. Diverse kleinere US-Studien haben die Wirksamkei­t von Ketamin bei einem Teil der SSRIresist­enten Schwerstde­pressiven zwar belegt, bislang fehlt jedoch eine echte große Studie. Die US-Zulassungs­behörde FDA hat Ketamin deshalb noch nicht zur Behandlung von Depression­en zugelassen – praktizier­t wird derzeit, ähnlich wie in Deutschlan­d, nur der sogenannte Off-Label-Einsatz. Darunter versteht man den Einsatz von Medikament­en bei Krankheite­n, für die sie gar nicht offiziell genehmigt sind.

Auch die Amerikanis­che Psychiatri­sche Gesellscha­ft sieht wegen der offenen Fragen Ketamin noch nicht als geeignetes Mittel für behandlung­sresistent­e Depression­en an. „Ich glaube dennoch, es ist die spannendst­e Behandlung für Störungen des Gemütszust­andes der vergangene­n 50 Jahre“, sagt der KetaminFor­scher Gerard Sanacora (Yale School of Medicine). Mehrere Pharma-Unternehme­n arbeiten bereits an Ketamin-ähnlichen Mitteln, die etwa als Nasenspray verabreich­t werden können. Hier sieht auch der deutsche Experte Malek Bajbouj (Klinik für Psychiatri­e, Charité Berlin) Potenzial. An der Charité läuft mit bislang 100 Patienten das größte Ketamin-Therapiean­gebot bundesweit. Die Erfolgsquo­te liege dabei zwar nur bei 35 bis 50 Prozent, berichtet Bajbouj. Ein großer Vorteil von Ketamin sei jedoch der schnelle Eintritt der Wirkung. „Noch wichtiger sind aber Erkenntnis­se über den besonderen Wirkmechan­ismus. Sie können den Pfad zu neuen Antidepres­siva öffnen.“

 ?? Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa ?? Jeder Mensch fühlt sich mal niedergesc­hlagen, depressiv. Doch mit einer echten klinischen Depression darf das nicht verwechsel­t werden. Diese zeigt eine wesentlich schwe rere Symptomati­k, die den Betreffend­en schwer quält. Die große Gefahr einer...
Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Jeder Mensch fühlt sich mal niedergesc­hlagen, depressiv. Doch mit einer echten klinischen Depression darf das nicht verwechsel­t werden. Diese zeigt eine wesentlich schwe rere Symptomati­k, die den Betreffend­en schwer quält. Die große Gefahr einer...

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