Aichacher Nachrichten

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (38)

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Wenn sich dagegen in den Cottages ein Paar voneinande­r verabschie­dete, sprachen die Betroffene­n kaum miteinande­r, geschweige denn dass sie einander in die Arme genommen oder geküsst hätten. Stattdesse­n stieß man den Partner mit den Fingerknöc­heln am Oberarm, knapp über dem Ellenbogen an, wie wenn man jemanden auf sich aufmerksam machen will. Diese Geste fiel in der Regel dem Mädchen zu.

Bis zum Winter kam sie außer Gebrauch, aber bei unserer Ankunft war sie noch sehr verbreitet gewesen, und Ruth wandte sie bald bei Tommy an. Natürlich hatte Tommy zuerst keinen blassen Schimmer, was dieses Anstoßen bedeuten sollte, drehte sich abrupt zu Ruth um und fragte: „Was ist?“, so dass sie ihn wütend anstarren musste, als stünden sie auf der Bühne und er hätte seinen Text vergessen. Wahrschein­lich klärte sie ihn irgendwann auf, denn nach einer Woche bekamen sie es richtig hin, mehr oder weniger genauso wie die VeteranenP­aare.

Ich selbst sah dieses Anstoßen des Oberarms nie im Fernsehen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass die Geste daher stammte, und genauso sicher war ich, dass Ruth es nicht wusste. Aus diesem Grund entschied ich eines Nachmittag­s, als ich im Gras lag, Daniel Deronda las und mich über Ruth ärgerte, dass es an der Zeit sei, sie darauf aufmerksam zu machen.

Es war schon recht herbstlich und begann kalt zu werden. Die Veteranen blieben jetzt öfter im Haus und nahmen die gewohnten Tätigkeite­n wieder auf, die der Sommer unterbroch­en hatte. Wir Neuankömml­inge hingegen saßen nach wie vor draußen im ungemähten Gras, weil wir an unserer einzigen vertrauten Gewohnheit so lang wie möglich festhalten wollten. An jenem Nachmittag lagen außer mir nur drei oder vier andere lesend im Gras, und da ich mir besondere Mühe gegeben hatte, eine stille Ecke zu finden, bin ich mir ziemlich sicher, dass niemand mitbekam, was zwischen Ruth und mir vorfiel.

Ich lag auf einer alten Plane und las, wie gesagt, Daniel Deronda, als Ruth herbeischl­enderte und sich zu mir setzte. Sie musterte den Buchumschl­ag und nickte vor sich hin. Nach etwa einer Minute, genau wie ich vorhergese­hen hatte, begann sie mir in groben Zügen die Handlung dieses Romans von George Eliot zu skizzieren. Bis zu dem Zeitpunkt war meine Stimmung völlig okay gewesen, ich hatte mich sogar gefreut, Ruth zu treffen, aber jetzt ärgerte ich mich, denn das hatte sie schon ein paarmal mit mir gemacht, und nicht nur mit mir, wie ich beobachtet hatte. Schon allein die Miene, die sie dabei aufsetzte: lässig, aber so demonstrat­iv aufrichtig und wohlmeinen­d, als erwartete sie Dankbarkei­t für ihre Hilfe. Gut, ich war mir schon damals mehr oder weniger bewusst, was sich dahinter verbarg: In den ersten Monaten in den Cottages hatte sich unter uns die Idee festgesetz­t, dass der Gradmesser dafür, wie gut man sich hier zurechtfan­d – wie gut man sich anpasste –, die Anzahl der gelesenen Bücher war. Das klingt merkwürdig, aber es hatte sich nun mal bei uns, die wir aus Hailsham kamen, so eingebürge­rt. Allerdings blieb es absichtlic­h unklar – eigentlich erinnerte es sehr an die Art, wie wir in Hailsham mit Sex umgegangen waren. Man konnte herumgehen und gegenüber jedermann andeuten, was man alles gelesen hatte, konnte wissend nicken, wenn jemand zum Beispiel Krieg und Frieden erwähnte, und sich dabei auf die stillschwe­igende Vereinbaru­ng verlassen, dass niemand diese Behauptung wirklich überprüfte. Sie müssen bedenken, dass wir ja seit unserer Ankunft in den Cottages ständig zusammen gewesen waren und niemand von uns Krieg und Frieden hätte lesen können, ohne dass es die anderen bemerkt hätten. Aber damit verhielt es sich wie in Hailsham mit dem Sex, es galt die unausgespr­ochene Regel, dass wir uns in eine andere, geheimnisv­olle Dimension davonmacht­en, wo wir all diese Bücher lasen.

Es war also ein kleines Spiel, dem wir alle in unterschie­dlichem Ausmaß frönten. Aber Ruth trieb es weiter als alle anderen. Sie war diejenige, die bei jedem Buch, das jemand zufällig las, grundsätzl­ich behauptete, sie habe es schon gelesen; und sie hatte als Einzige die fixe Idee, ihre überragend­e Belesenhei­t beweisen zu müssen, indem sie den Leuten die Handlung der Romane erzählte, die sie gerade lasen. Als sie jetzt mit Daniel Deronda anfing, ergriff ich also die Gelegenhei­t – obwohl es mir eigentlich hätte egal sein können, denn der Roman gefiel mir nicht besonders gut –, klappte das Buch zu, setzte mich auf und sagte, völlig überrasche­nd für sie:

„Übrigens, Ruth, was ich dich schon lang mal fragen wollte. Wieso schlägst du Tommy immer auf den Arm, wenn du dich von ihm verabschie­dest? Du weißt schon, was ich meine.“

Natürlich tat sie, als wüsste sie es nicht, so dass ich es ihr geduldig erklärte. Ruth ließ mich ausreden und erwiderte dann mit einem Achselzuck­en: „War mir gar nicht bewusst, dass ich das mache. Muss ich wohl irgendwo aufgeschna­ppt haben.“

Ein paar Wochen früher hätte ich es dabei bewenden lassen – oder es erst gar nicht erst zur Sprache gebracht. An diesem Nachmittag aber ließ ich nicht locker. Die Geste stamme aus einer Fernsehser­ie, sagte ich. „Sie ist es nicht wert, dass man sie kopiert. Im normalen Leben tun die Leute so was nicht, falls du das denken solltest.“Ruth war jetzt wütend, das sah ich, aber sie wusste nicht so recht, wie sie zurückschl­agen sollte. Sie wandte den Blick ab und zuckte noch einmal die Achseln. „Na und?“, sagte sie. „Ist doch nichts dabei. Viele von uns tun es.“

„Du meinst, Chrissie und Rodney tun es.“

Das war ein Fehler gewesen, wie mir im selben Moment klar wurde; ich hatte Ruth in die Enge getrieben, aber nun konnte sie sich befreien. Es war wie bei einem falschen Schachzug: In der Sekunde, in der man die Figur loslässt, erkennt man den Irrtum, und es bricht eine gewisse Panik aus, weil man das Ausmaß des Desasters, das man heraufbesc­hworen hat, noch nicht absehen kann. Natürlich trat ein Funkeln in Ruths Augen, und als sie wieder zu sprechen anfing, war ihr Tonfall völlig verändert.

„Ach, das ist es, was die arme kleine Kathy aufregt. Ruth schenkt ihr nicht genügend Beachtung. Ruth hat neue Freunde, die schon groß sind, und spielt nicht mehr so oft mit dem kleinen Schwesterc­hen…“

„Ach, hör doch auf. In echten Familien geht es jedenfalls nicht so zu. Aber davon verstehst du nichts.“

„Aber du, oder? Kathy, die Expertin für echte Familien. Bitte vielmals um Verzeihung! Aber das ist es, stimmt’s? Du klammerst dich immer noch an diese Idee. Wir Hailshamer, wir müssen zusammenha­lten wie Pech und Schwefel, wir dürfen niemals neue Freundscha­ften schließen.“

„Das hab ich doch nie behauptet. Ich rede nur über Chrissie und Rodney. Es sieht bescheuert aus, wie du ihnen alles nachmachst.“»39. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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