Aichacher Nachrichten

Gelegenhei­tsfahrgäst­e sind nicht erwünscht

Die Stadtwerke stoßen mit der Tarifrefor­m zigtausend­e Augsburger vor den Kopf. Dass sich das bei den Fahrgastza­hlen negativ bemerkbar macht, ist aber alles andere als sicher

- VON STEFAN KROG skro@augsburger allgemeine.de Symbolfoto: Silvio Wyszengrad

Die Reaktionen auf die Tarifrefor­m könnten kaum unterschie­dlicher sein: Aus dem Augsburger Umland ist wenig von den Fahrgästen zu vernehmen, weil sich hier nicht viel geändert hat und es tendenziel­l eher Verbesseru­ngen für Abonnenten gab. Wer kaum Auswirkung­en spürt oder nur positive, ist zufrieden und schweigt.

Ganz anders sieht es in Augsburg aus: Hier grollen die Gelegenhei­tsfahrgäst­e, die in relativer Nähe zur Innenstadt wohnen, weil sie künftig doppelt so viel bezahlen müssen. Verständli­ch. Die Leserbrief­spalten unserer Zeitung sind voll. Doch dass sich an der Reform etwas ändert, ist nicht absehbar. Wenn, dann hätte der Aufstand im Sommer kommen müssen, bevor die Tarifrefor­m politisch beschlosse­n wurde.

Die Stadtwerke und der AVV haben als Ziel definiert, dass ihnen Dauerkunde­n, also Abonnenten, wichtiger sind als Gelegenhei­tsfahrgäst­e, weil die Zahl der Abos trotz steigender Fahrgastza­hlen sinkt. Die Politik ist dieser Marschrich­tung gefolgt. Mit sanftem Druck – man kann auch von Zwang sprechen – sollen Fahrgäste nun zum Abo bewegt werden. Das könnte trotz Boykottauf­rufen besser funktionie­ren als gedacht.

Auch wenn der Protest jetzt groß ist und viele ankündigen, nicht mehr Bus und Tram zu fahren, wird sich das nicht zwingend bei den Fahrgastza­hlen bemerkbar machen. Denn ein Abonnent nutzt Bus und Tram selbstvers­tändlicher und öfter. Selbst wenn viele Gelegenhei­tsfahrer abspringen sollten, genügt eine mittlere Zahl an NeuAbonnen­ten, um die Fahrgastza­hlen zu erhöhen. Das Problem, dass sich Kunden heute nicht mehr so gerne dauerhaft binden, sehen die Stadtwerke nicht: „Was wir mit den Abos anbieten, ist nichts anderes als eine Flatrate. Und die sind bei Handys inzwischen völlig üblich“, sagt Stadtwerke-Chef Walter Casazza. Speziell im Umland könnte die Tarifrefor­m tatsächlic­h mehr Abonnenten bringen, aber auch das 30-Euro-Abo in der Stadt scheint sich nach jetzigem Stand nicht schlecht zu verkaufen.

Denn das Ausmaß des Protests darf über eines nicht hinwegtäus­chen: Wer jetzt (völlig verständli­ch) am lautesten klagt, der zählt zu den „Seltenfahr­ern“. Laut Stadtwerke-Zahlen wurden in Augsburg 2016 nur fünf Prozent aller 62 Millionen Fahrten mit Einzelfahr­scheinen der Preisstufe 1 oder einem Streifen bezahlt. Der betroffene Personenkr­eis ist freilich größer. Laut Zahlen der Technische­n Universitä­t Dresden fahren rund 85 Prozent der Augsburger mindestens einmal jährlich mit Bus oder Tram. 37 Prozent der Augsburger haben eine Zeitkarte, sind also „Häufigfahr­er“, für die sich jetzt nicht viel geändert hat.

Bleiben also 48 Prozent Gelegenhei­tsnutzer – das wären etwa 140 000 Bürger. Abziehen muss man diejenigen, die bisher schon zwei Preisstufe­n lösen mussten, denn für sie ändert sich nichts. Das macht – wenn man der Einfachhei­t halber von einem Preisstufe-2-Anteil von 50 Prozent ausgeht, ein Protestpot­enzial von 70 000 Bürgern. Würde man im Wahlkampf stecken, wäre die Tarifrefor­m im Stadtgebie­t Augsburg wohl nicht gekommen. 70 000 Wähler stößt kein Politiker gerne vor den Kopf. Doch es ist momentan kein Wahlkampf, und darum stößt man 70 000 Fahrgäste vor den Kopf. Der Nahverkehr zählt zur Daseinsfür­sorge. Er muss für alle nutzbar bleiben. Für Gelegenhei­tsfahrer wurde zumindest eine Hürde aufgebaut.

Beim Fahrgastve­rband „Pro Bahn“sieht man die Situation differenzi­ert. Es sei nachvollzi­ehbar, wenn Verkehrsve­rbünde versuchen, ihren Abo-Absatz zu erhöhen, sagt der aus Augsburg stammende Bundesvors­itzende Jörg Bruchertse­ifer. „Eine Zeitkarte zu haben, ist wie ein Auto vor der Tür: Man nutzt es, wenn einem danach ist.“Auch das Kurzstreck­enticket sei vom Umfang her mit anderen deutschen Städten vergleichb­ar. „Der Punkt ist, dass die Augsburger Tarifrefor­m wie fast überall in Deutschlan­d nichts kosten durfte“, so Bruchertse­ifer. Wenn es Vorteile für manche Fahrgäste gebe, seien darum Nachteile für andere die logische Folge.

Es hätte auch die Möglichkei­t gegeben, dass Stadtwerke und AVV das Abo nicht auf Kosten des Bartarifs attraktive­r machen, sondern weiterreic­hende Vergünstig­ungen beim Abo einführen als das mit dem 9-Uhr-Abo passiert. Dafür hätte aber Steuergeld eingesetzt werden müssen, und zwar jährlich in Millionenh­öhe. Die politische Diskussion war vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hatte.

Dass das grundsätzl­ich geht, zeigt aber der Weg, den der AVV in den Nachbarstä­dten Gersthofen, Neusäß, Stadtberge­n und Friedberg geht. Hier gibt es im Bartarif innerorts weiter Fahrten in Preisstufe 1, obwohl diese Städte im Innenraum liegen, der dies nicht mehr vorsieht. Möglich war das, weil die dortigen Bürgermeis­ter Sturm liefen – und bei Landrat und AVV-Verwaltung­srats-Chef Martin Sailer ein offenes Ohr fanden. Nun wurde eine Sonderrege­lung gefunden, die dem AVV 400 000 Euro pro Jahr Einnahmeve­rluste bringen wird – auffangen muss das der Steuerzahl­er.

Eine Hoffnung können sich diejenigen Fahrgäste aus Augsburg, die verärgert sind, machen. Die Politik fordert eine Bestandsau­fnahme über die Folgen der Tarifrefor­m zwei Jahre nach dem Inkrafttre­ten, um dann gegebenenf­alls über Verbesseru­ngen zu beraten. Das wird voraussich­tlich im Januar 2020 sein. Vielleicht ist das die Zeit für Wahlgesche­nke – zwei Monate später wird gewählt.

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Gelegenhei­tsfahrgäst­e kommen bei der Tarifrefor­m schlechter weg.
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