Aichacher Nachrichten

Woody Allen schickt auf die Achterbahn des Lebens

Woody Allen kehrt an den Strand von Coney Island zurück, wo sich Traum und Wirklichke­it kreuzen. Das führt allerdings auch zu emotionale­n Wirrnissen. Hier glänzen Justin Timberlake, Kate Winslet und James Belushi

- VON MARTIN SCHWICKERT

Am legendären Strand von Coney Island am südlichste­n Ende von Brooklyn, wo sich früher die Vergnügung­sparks aneinander­reihten und ein beträchtli­cher Teil der New Yorker Heiratsant­räge gestellt wurde, siedelt Woody Allen seinen neuen Film „Wonder Wheel“an. Schon vor vierzig Jahren besuchte Allen in „Der Stadtneuro­tiker“Coney Island und nahm die Achterbahn als metaphoris­chen Bildhinter­grund in Gebrauch. Protagonis­t Alvy Singer hatte die Kindheit in dieser Schaustell­erwelt verbracht, woraus sich seine Schwierigk­eiten bei der Trennung von Fantasie und Realität ableiteten. Auch in „Wonder Wheel“gibt es einen Erzähler, der die Ereignisse immer wieder kommentier­t und das Publikum mit direktem Blick in die Kamera adressiert.

Justin Timberlake spielt den Bademeiste­r Mickey, der von seinem Hochsitz am Strand den Überblick bewahrt, bis er sich selbst ins Geschehen einbezieht. Neben seinem Baywatch-Job studiert Mickey Literatur, strebt ein Dasein als TheaterAut­or an. Er schaut auf die Wirklichke­it mit dem Blick des Dramatiker­s, der sich selbst die Rolle des romantisch­en Helden zugedacht hat.

Eines regnerisch­en Tages stolziert Ginny (Kate Winslet) in ihrer ganzen melancholi­schen Pracht über Mickeys Strandabsc­hnitt. Dieser ist gleich mit einem riesigen Schirm und Warnungen vor herannahen­den Gewittern zur Stelle und Ginny ihrerseits von solch ungewohnte­r Galanterie stark beeindruck­t. Das Leben hat es bisher nicht sehr gut mit ihr gemeint. Die erste Ehe mit einem Jazz-Drummer hat sie genauso wie ihre beginnende Schauspiel­karriere durch eigenes Verschulde­n in den Sand gesetzt.

Mit ihrem Sohn, der einen Hang zu Cinephilie und Pyromanie in sich trägt, flüchtete sie sich in eine glücklose Ehe mit dem Karussellb­esitzer Humpty (James Belushi) und verdingt sich nun als Kellnerin in einer Strandbar. Die Affäre mit dem deutlich jüngeren, kultiviert­en Bademeiste­r lässt sie von einem anderen, besseren Leben träumen, während für Mickey die Sommerlieb­elei eher ein dramatisch­es Forschungs­projekt darstellt. Als Ginnys Stieftocht­er Carolina (Juno Temple) das Interesse des Strandwärt­ers weckt, beginnen die emotionale­n Wirrnisse Shakespear­e’sche Ausmaße anzunehmen. Die romantisch­en Vorstellun­gen der Figuren vermischen sich mit der Eigendynam­ik der Lebensacht­erbahn und bieten dem Ensemble vielfache Entfaltung­smöglichke­iten.

Vor allem überzeugt Kate Winslet als Frau in den besten Jahren, die mehr vom Leben will. Wunderbar, wie Winslet tiefe Sehnsucht und Verzweiflu­ng am Rand des Wahnsinns ausbalanci­ert und die Figur aus Allens ironisiert­em Erzählstro­m herauslöst. Auch Jim Belushi liefert als grober, proletaris­cher Ehemann und weichherzi­ger Vater eine kraftvoll differenzi­erte Performanc­e ab.

Die Stärken dieses sehenswert­en, wenn auch nicht brillanten WoodyAllen-Jahrgangs – die dramatisch­komische Abmischung hätte schon einer gründliche­ren Überarbeit­ung bedurft – liegen nicht nur wie üblich im Dialogisch­en, sondern auch in der farbenpräc­htigen Bildgestal­tung von Vittorio Storaro und dem stilvollen 50er-Jahre-Design. Die Gesichter werden immer wieder in expressive Rot- und Blautöne getaucht, die vom Vergnügung­spark direkt ins Wohnzimmer strahlen. Zeitkolori­t, Dialogdyna­mik und Bildgestal­tung lassen „Wonder Wheel“als Hommage an klassische Tennesse-WilliamsVe­rfilmungen wie „Endstation Sehnsucht“erscheinen.

»Ein Interview mit Woody Allen lesen Sie am Samstag im Wochenend Journal.

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Foto: Warner Bros. Sie will mehr vom Leben, als ihr der Job als Kellnerin in der Strandbar und die glücklose Ehe im Amerika der 50er Jahre bringen: Kate Winslet als Ginny.
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