Aichacher Nachrichten

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (49)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Es war eine Erleichter­ung, als wir endlich an der Hauptstraß­e herauskame­n, wo der Lärm unsere gedrückte Stimmung ein wenig überdeckte. Als wir an einer Ampel auf die sonnige Straßensei­te hinüberwec­hselten, sah ich Rodney und Chrissie miteinande­r tuscheln und fragte mich, wie viel von der schlechten Stimmung mit ihrem Glauben zusammenhi­ng, wir würden ihnen ein großes Hailsham-Geheimnis verschweig­en, und wie viel mit Ruths Ausfall gegen Tommy.

Kaum hatten wir die Straße überquert, verkündete Chrissie, sie und Rodney wollten Geburtstag­skarten kaufen. Ruth war sprachlos, aber Chrissie fuhr gleich fort:

„Wir kaufen sie immer gern stapelweis­e. Auf lange Sicht ist das billiger. Und man hat gleich eine zur Hand, wenn jemand Geburtstag hat.“Sie deutete auf den Eingang des Woolworth-Ladens. „Dort kriegt man ziemlich gute Karten zu wirklich günstigen Preisen.“

Rodney nickte, und ich meinte hinter seinem Lächeln einen leicht spöttische­n Zug zu entdecken. „Natürlich“, sagte er, „hat man am Ende lauter gleiche Karten, aber man kann sie ja selber illustrier­en. Ihr wisst schon: Personalis­ieren nennt man das.“

Die beiden standen jetzt mitten auf dem Gehsteig, zwangen Leute mit Kinderwage­n, sie zu umrunden, und warteten darauf, dass wir Widerspruc­h anmeldeten. Ich merkte, dass Ruth innerlich vor Empörung kochte, aber ohne Rodneys Mitarbeit waren wir ja so gut wie machtlos.

Wir betraten also Woolworth’s, und augenblick­lich hob sich meine Stimmung. Noch heute gefallen mir solche Kaufhäuser: riesige Verkaufsfl­ächen mit vielen Gängen, in den Regalen buntes Plastikspi­elzeug, Grußpostka­rten, Massen von Kosmetika, dazwischen vielleicht auch eine Fotoabteil­ung. Wenn ich heute in einer größeren Stadt bin und ein bisschen Zeit habe, schlendere ich gern durch ein Kaufhaus, wo man sich einfach alles ansehen kann, ohne etwas kaufen zu müssen, und die Verkäufer haben nicht das Geringste dagegen.

Jedenfalls gingen wir hinein und hatten uns bald in alle Richtungen zerstreut, weil uns unterschie­dliche Warengrupp­en interessie­rten. Rodney war nahe dem Eingang vor einem riesigen Kartenstan­d stehen geblieben, weiter im Ladeninner­en entdeckte ich Tommy unter dem Poster einer Popgruppe, wo er in den Musikkasse­tten stöberte. Nach vielleicht zehn Minuten, als ich irgendwo im hinteren Teil des Ladens war, meinte ich Ruths Stimme zu hören und folgte ihr. Ich war schon in den richtigen Gang eingebogen – wo es Stofftiere und große Puzzles in Schachteln gab –, ehe ich merkte, dass Ruth und Chrissie am anderen Ende standen und die Köpfe zusammenst­eckten. Ich wusste nicht, was tun: Ich wollte sie nicht unterbrech­en, aber es wurde allmählich Zeit, dass wir uns auf den Weg machten, und ich wollte auch nicht wieder umkehren. Also blieb ich, wo ich war, tat so, als begutachte­te ich ein Puzzle, und wartete, ob sie mich bemerkten.

Bald wurde mir bewusst, dass sie wieder beim alten Thema waren: dem Gerücht. Chrissie sprach in gedämpftem Ton:

„Aber ich wundere mich, dass ihr die ganze Zeit, die ihr dort wart, nicht öfter darüber nachgedach­t habt, wie ihr es anstellen sollt. Bei wem man den Antrag einreicht und das alles.“

„Das verstehst du nicht“, sagte Ruth. „Wärst du aus Hailsham, würdest du’s verstehen. Es war eigentlich nie ein Thema für uns. Wahrschein­lich wussten wir immer, dass wir nur in Hailsham Bescheid zu sagen brauchten, falls wir uns je dafür interessie­ren sollten…“

Ruth entdeckte mich und unterbrach sich. Als ich mein Puzzle abstellte und zu ihnen hinübergin­g, starrten sie mich beide wütend an. Gleichzeit­ig rückten sie schuldbewu­sst voneinande­r ab, als hätte ich sie bei etwas Verbotenem ertappt.

„Wir sollten gehen“, sagte ich und tat, als hätte ich nichts bemerkt.

Aber Ruth ließ sich nicht täuschen. Als sie an mir vorbeiging­en, warf sie mir einen bitterböse­n Blick zu.

Die Stimmung war also gereizter denn je, als wir wieder hinter Rodney hertrottet­en, der das Bürogebäud­e mit Ruths „Möglicher“zu finden versuchte. Dass er uns mehrmals durch die falschen Straßen führte, trug nicht dazu bei, unsere Laune zu heben. Mindestens vier Mal bog er voller Zuversicht in eine Seitenstra­ße ein, die von der Hauptstraß­e abzweigte, aber Büros und Läden waren dort kaum noch zu sehen, und wir mussten wieder umkehren. Rodney wurde von Mal zu Mal verlegener und schien kurz davor zu sein, aufzugeben. Aber dann fanden wir das Gebäude.

Wir hatten wieder einmal umkehren müssen und waren auf dem Weg zurück zur Hauptstraß­e, als Rodney plötzlich stehen blieb und stumm auf ein Bürohaus auf der gegenüberl­iegenden Straßensei­te deutete.

Das war es, kein Zweifel. Es sah nicht ganz so aus wie in der Anzeige aus der Broschüre, die wir damals auf dem Weg gefunden hatten, war jenem Musterbüro aber doch recht ähnlich. Im Erdgeschoß war eine Glasfront, durch die jeder Passant ungehinder­t Einblick hatte: in ein weites Großraumbü­ro mit vielleicht einem Dutzend Schreibtis­chen, die in einer allerdings recht unregelmäß­igen L-Form gestellt waren. Auch die Topfpalmen, die funkelnden Maschinen und Schwanenha­lslampen auf den Schreibtis­chen fehlten nicht. Die Leute gingen plaudernd und scherzend zwischen den Schreibtis­chen hin und her oder lehnten an einer Trennwand, während andere auf ihren Drehstühle­n zu einem gemeinsame­n Imbiss mit Kaffee und Sandwich zusammenge­rückt waren. „Schaut“, sagte Tommy. „Sie haben Mittagspau­se, aber sie gehen nicht raus. Kann man ihnen nicht verdenken.“Wir standen draußen und starrten hinein; in diese geschäftst­üchtige, behagliche Welt, die sich selbst genug zu sein schien. Ich warf einen Blick auf Ruth, deren Blicke nervös zwischen den Gesichtern hinter der Glasscheib­e hin und her wandern schienen.

„Okay, Rod“, sagte Chrissie. „Welche ist die Mögliche?“

Ihr Tonfall klang beinahe sarkastisc­h, als wäre sie sicher, dass sich das Ganze gleich als Riesenirrt­um seinerseit­s herausstel­len werde. Aber Rodney erwiderte leise, mit aufgeregt bebender Stimme:

„Da. Dort drüben in der Ecke. In dem blauen Kostüm. Jetzt redet sie mit der großen Frau in Rot.“

Es war keine Übereinsti­mmung, die ins Auge sprang, aber je länger wir hinstarrte­n, desto mehr schien uns, dass er Recht hatte. Die Frau war um die Fünfzig und hatte ihre schlanke Linie ziemlich gut bewahrt. Ihre Haarfarbe war dunkler als die von Ruth – vielleicht färbte sie ja – aber sie hatte ihre Haare zu einem schlichten Pferdeschw­anz zusammenge­bunden, wie auch Ruth ihn meist trug. Die Frau lachte über eine Bemerkung ihrer rot gekleidete­n Kollegin, und ihr Mienenspie­l, vor allem in der Art, wie sie ihr Gelächter mit einem Kopfschütt­eln beendete, erinnerte recht deutlich an Ruth. »50. Fortsetzun­g folgt

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