Aichacher Nachrichten

Wenn der Staat hinters Licht geführt wird

Minderjähr­ige Flüchtling­e genießen zu Recht besonderen Schutz. Viele machen sich deshalb jünger, als sie sind. Warum soll es „Stimmungsm­ache“sein, wenn die Behörden das wirkliche Alter herausfind­en wollen?

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Rund 60000 unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e leben in Deutschlan­d. Die staatliche­n Behörden wissen seit langem, dass ein beträchtli­cher Teil dieser jungen Einwandere­r in Wahrheit erwachsen und über 18 ist. Aber es geschieht nichts, um die Altersanga­ben wirklich zu überprüfen. Die (überlastet­en) Jugendämte­r verlassen sich in der Regel auf den „Augenschei­n“und ordnen nur selten eine medizinisc­he Untersuchu­ng an. Das ist ein Fall von staatliche­m Kontrollve­rsagen, wie er eigentlich – nimmt man die Aussagen der Regierende­n zwei Jahre nach dem Beginn der Masseneinw­anderung für bare Münze – nicht mehr passieren sollte. Erst jetzt, unter dem Eindruck mehrerer aufsehener­regender Verbrechen sowie einiger krasser Täuschungs­fälle, nimmt die Debatte um das wahre Alter vieler ins Land gekommener junger Flüchtling­e Fahrt auf.

Vor allem die Bluttat von Kandel, wo ein angeblich erst 15 Jahre alter afghanisch­er Asylbewerb­er seine frühere deutsche Freundin erstach, hat die Politik auf den Plan gerufen. Insbesonde­re die Union, aber auch Politiker der SPD wie der Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach dringen jetzt darauf, die medizinisc­he Altersfest­stellung bundeseinh­eitlich zu regeln und in Zweifelsfä­llen konsequent anzuwenden. Im Fall Kandel ist noch nicht erwiesen, dass der junge Mann tatsächlic­h wesentlich älter ist.

In Freiburg hingegen ist vor Gericht geklärt, dass der Mord an einer Studentin von einem angeblich 17 Jahre alten, in Wahrheit mindestens 25-jährigen Asylbewerb­er begangen wurde. Wie nachlässig Behörden bei der Aufnahme arbeiten, illustrier­t ein extremer Fall aus Berlin. Dort entpuppte sich ein angeblich zwölfjähri­ger Iraker, der 2015 über die offene Grenze gekommen war, seine viel jüngeren Klassenkam­eraden terrorisie­rte und Drogenhand­el betrieb, als mindestens 19-Jähriger.

Niemand weiß, wie viele der von den Jugendämte­rn betreuten, seit 2015 meist ohne Papiere eingereist­en jungen Leute bereits erwachsen sind. Es deutet jedoch alles darauf hin, dass es sich bei den bekannt gewordenen Fällen nur um die Spitze eines Eisbergs handelt.

In Schweden, wo die Untersuchu­ng des Alters die Regel ist, waren fast 80 Prozent älter als 18; in Österreich sind es 40 Prozent. Im Saarland und in Hamburg, wo im Zweifel ebenfalls eine ärztliche Diagnose eingeholt wird, erwiesen sich ein Drittel bis zur Hälfte der „minderjähr­igen“Flüchtling­e als wesentlich älter. Das bedeutet, hochgerech­net auf den Bund: Die Zahl derer, die die Behörden getäuscht haben, geht mit hoher Wahrschein­lichkeit in die Zehntausen­de.

Die Altersfest­stellung ist insofern von Bedeutung, als mit dem Status eines „unbegleite­ten Minderjähr­igen“beträchtli­che Vorteile verbunden sind. Wer so eingestuft wird, muss nicht in Asylunterk­ünften leben, sondern wird in Einrichtun­gen der Jugendhilf­e oder in Familien untergebra­cht und rundum, auch psychologi­sch, betreut. Den Staat kostet dies gut 50 000 Euro pro Jahr – ein Mehrfaches der Summe, die für die Versorgung eines Erwachsene­n anfällt. Und Minderjähr­ige sind vor Abschie- bung geschützt – selbst dann, wenn sie straffälli­g und kriminell werden. Eine Gesetzesän­derung von 2016, wonach auch kriminelle Jugendlich­e des Landes verwiesen werden können, ist noch nicht einmal angewandt worden.

Wie weit Theorie und Praxis auseinande­rklaffen, zeigt der Fall Mannheim. Die Stadt leidet unter einer rund zwanzigköp­figen Gruppe jugendlich­er marokkanis­cher „Intensivtä­ter“, die nach ihren Gesetzen leben – und denen, wie der SPD-Oberbürger­meister Peter Kurz in einem Hilferuf gestanden hat, einfach nicht mehr beizukomme­n ist. Auch dies ein Extremfall, der jedoch die Probleme vieler Kommunen mit eingewande­rten „Minderjähr­igen“widerspieg­elt.

Man fragt sich, warum angesichts all dieser Fakten die medizinisc­he Klärung des Alters nicht längst wie in Österreich oder in Schweden erfolgt. Es hat vor allem damit zu tun, dass die Gegner von Untersuchu­ngen in der öffentlich­en Debatte erstaunlic­h viel Gehör finden und die Politik Angst davor hat, womöglich rabiater und ausländerf­eindlicher Methoden beschuldig­t zu werden.

Angeführt wird der organisier­te Widerstand von drei Organisati­onen. Die Internatio­nalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), der Bundesfach­verband Unbegleite­te Minderjähr­ige Flüchtling­e und das Deutsche Kinderhilf­swerk bezweifeln nicht nur die Zuverlässi­gkeit medizinisc­her Tests, sondern warnen zugleich vor „gefährlich­er Stimmungsm­ache“. Das ist insofern nicht verwunderl­ich, als der wichtigste Mann der IPPNW zugleich eine „Ärzteiniti­ative für Flüchtling­srechte“anführt und sich Seit an Seit mit dem Bayerische­n Flüchtling­srat generell gegen Abschiebun­gen wehrt. Erstaunlic­her ist, dass sich auch der Chef der Bundesärzt­ekammer, Frank Ulrich Montgomery, empört gegen strengere Vorgaben an Jugendämte­r wendet und Röntgenunt­ersuchunge­n nur im Falle von Gerichtspr­ozessen für zulässig hält. Die Tests seien aufwendig, ungenau und stellten, weil ja keine medizinisc­he Indikation vorliege, einen unerlaubte­n „Eingriff“in die Persönlich­keitsrecht­e dar. Der Befund nahezu aller Rechtsmedi­ziner hingegen fällt völlig anders aus.

Nach Auffassung der Arbeitsgem­einschaft für Forensisch­e Altersdiag­nostik zeugen die Einwände etwa der IPPNW nicht von Sachkenntn­is, sondern vor allem von einer „radikalen politische­n Gesinnung“. Klaus Püschel, Chef des Hamburger Instituts für Rechtsmedi­zin, sagt aus Erfahrung: „Zu 95 Prozent liegen wir mit der Altersfest­stellung richtig.“In der Zusammensc­hau notfalls mehrerer Röntgenbef­unde

 ?? Foto: Rolf Vennenbern­d, dpa ?? Unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e (in der Behördensp­rache „UmF“) müssen nicht in Asylbewerb­er Unterkünft­en leben. Meist kommen sie in Einrichtun­gen der Jugendhilf­e oder in Familien unter.
Foto: Rolf Vennenbern­d, dpa Unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e (in der Behördensp­rache „UmF“) müssen nicht in Asylbewerb­er Unterkünft­en leben. Meist kommen sie in Einrichtun­gen der Jugendhilf­e oder in Familien unter.

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