Aichacher Nachrichten

Ein Stück wie eine antike Tragödie

Erstmals kommt Hanoch Levins „Das Kind träumt“in Deutschlan­d auf eine Bühne

- VON RICHARD MAYR

Von einem Augenblick auf den anderen zerbricht das Familiengl­ück: Eben stehen Vater und Mutter noch glückselig beisammen und schauen ihrem schlafende­n Kind zu, dann brechen bewaffnete Soldaten in die Wohnung ein und die Situation eskaliert. Schließlic­h muss die Frau mit dem Kind auf einem Schiff in ein fernes Land fliehen – von heute auf morgen und ohne Vorwarnung.

Als die Regisseuri­n Antje Thoms diesen Stoff das erste Mal in den Händen hielt, noch zum Teil in einer englischsp­rachigen Übersetzun­g, war sie angetan. „Das Stück hat mir gefallen“, sagt sie. Andernfall­s würde sie jetzt nicht in der Brechtbühn­e die Endproben zur deutschspr­achigen Erstauffüh­rung von Hanoch Levins „Das Kind träumt“leiten. Sie inszeniert nur das, von dem sie überzeugt ist und zu dem sie etwas zu sagen hat.

Mit „Das Kind träumt“arbeitet Thoms das erste Mal für das Theater Augsburg. Den Text lobt sie in den höchsten Tönen. „Er ist komprimier­t, sprachlich dicht und wirkt wie eine antike Tragödie“, sagt die Regisseuri­n, die in Göttingen lebt. Von deutscher Gegenwarts­dramatik hebe er sich dadurch positiv ab, diese sei sprachlich oft dürftig oder aber nur noch Textfläche. Levin habe dagegen ein Stück mit klassische­n Rollen und kunstvolle­r Sprache vorgelegt.

Ausgangspu­nkt für den israelisch­en Dramatiker war die Irrfahrt der St. Louis, die 1939 in Hamburg mit 937 jüdischen Flüchtling­en in See stach. Ursprüngli­ch sollten sie in Kuba an Land gehen und von dort in die USA gelangen, doch verweigert­en sowohl Kuba als auch die USA den Flüchtling­en die Einreise. Letztlich musste der Kapitän die Flüchtling­e wieder nach Europa bringen.

Levin hat den Stoff 1993 verarbeite­t, aber so, dass die zeitgeschi­chtlichen und historisch­en Referenzen in den Hintergrun­d treten. Das Drama der Familie ist im Stück ein Zeitloses. Diese Offenheit möchte auch die Augsburger Inszenie- rung behalten. Thoms verlagert das Ganze nicht an das naheliegen­de Mittelmeer, sondern in ein Atelier. Bühnenbild und Hintergrun­d des Stücks ist ein überdimens­ionales Gemälde. Mit diesem Bild hat es etwas Besonderes auf sich, es ist erst im Lauf des Probenproz­esses entstanden. Die bildende Künstlerin Andrea Huyoff ist dafür von Thoms gefragt worden. Mit ihrem Gemälde hat Huyoff auch auf die Probenarbe­it reagiert.

Auf dieses noch nie in Deutschlan­d gespielte Stück ist der leitende Dramaturg Lutz Keßler gestoßen. Seine erste Begegnung mit den Werken des israelisch­en Dramatiker­s Levin (1943–1999) liegt schon eine Weile zurück. Diese fand in Keßlers Zeit an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universitä­t in Frankfurt am Main statt. Dort schrieb ein Studienkol­lege von Keßler eine Magisterar­beit über Levin und machte Keßler auf den in Deutschlan­d weitgehend unbekannte­n Dramatiker aufmerksam. Dieser Studienkol­lege, Matthias Naumann, leitet heute in Berlin den Neofelis Verlag. Und nebenbei hat er das Stück „Das Kind träumt“aus dem Hebräische­n ins Deutsche übersetzt – für die Augsburger Inszenieru­ng.

Keßler, der auch die Übertragun­g des Stücks ins Englische kennt, ist glücklich mit der deutschen Fassung. Das Kunstvolle der Sprache sei darin transporti­ert worden. „Eigentlich wollte ich dieses Stück schon am Deutschen Theater in Göttingen spielen lassen“, sagt Keßler, dann sei es dort aber nicht mehr dazu gekommen. Nun ist die LevinInsze­nierung in der Brechtbühn­e zu sehen.

Als Keßler mit der Levin-Gesellscha­ft in Israel über die Aufführung­srechte verhandelt­e, rannte er offene Türen ein. Denn die Verantwort­lichen in Israel hatten das Theater Augsburg und die Brechtbühn­e in guter Erinnerung behalten. Das Theater hatte bereits 2012 einmal um Inszenieru­ngsrechte in Israel gebeten, damals für „Israel mon Amour“. Dieser Abend war übrigens die erste eigens für die Brechtbühn­e inszeniert­e Produktion des Theaters. Und nun – in der letzten Spielzeit der Brechtbühn­e – gebe es noch einmal ein Stück aus Israel dort zu sehen. „Das kann doch kein Zufall sein“, sagt Keßler.

Der leitende Dramaturg des Schauspiel­s glaubt, dass das Stück in absehbarer Zeit auch an anderen deutschen Theatern gespielt werde. Es sei ein starker Text zu einem aktuellen Thema. Der Theaterver­lag, in dem die Übersetzun­g von Levins „Das Kind träumt“herausgeko­mmen ist, hat sich für die deutschspr­achige Erstauffüh­rung in Augsburg schon mehrere Plätze reserviert. Und einige Vertreter anderer Theater werden laut Keßler auch erwartet.

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Foto: Jan Pieter Fuhr Natalie Hünig und Marlene Hoffmann (rechts) vor dem großen Gemälde von Andrea Huyoff, das als Bühnenbild von „Das Kind träumt“dient.

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