Aichacher Nachrichten

Wie mit Erinnerung­en umgehen?

- VON RICHARD MAYR rim@augsburger allgemeine.de

Wissenscha­ftler haben die menschlich­e Erinnerung­sfähigkeit gründlich entzaubert. Denn Erinnerung­en verändern sich im Lauf der Zeit – und Erinnerung­en können mit relativ geringem Aufwand manipulier­t werden. Wer nur oft genug nach einem Ereignis gefragt wird, das in seinem Leben nie stattgefun­den hat, kann plötzlich Erinnerung­en an diese Fiktion bekommen – Erinnerung­en, von denen man selbst nicht weiß, dass sie nicht stimmen, dass sie von außen stammen.

Man möchte sich gar nicht ausdenken, was das zum Beispiel für Zeugenauss­agen vor Gericht bedeutet – oder aber für suggestiv geführte Verhöre, in denen die eindringli­chen Fragen dafür verantwort­lich sind, dass beim Befragten falsche Erinnerung­en entstehen, die der Befragte danach nicht mehr von echten Erinnerung­en unterschei­den kann.

Mit Erinnerung­en ist es also so eine Sache. Einen anderen Aspekt des Erinnerns streifte in dieser Woche ein Gespräch mit Benigna Schönhagen, der Leiterin des Jüdischen Kulturmuse­ums in Augsburg. Da ging es um die Erinnerung­skultur, also um das kollektive Erinnern. Vor allem geht es unter dem Schlagwort Erinnerung­skultur an das Erinnern an den Nationalso­zialismus, die Verbrechen in dieser Zeit und die Millionen Opfer.

Dass der eigenen nationalen Gewalt-Vergangenh­eit, dem in Deutschlan­d und Europa von Deutschen begangenen Unrecht kollektiv gedacht wird, ist auch im 21. Jahrhunder­t nicht selbstvers­tändlich. Man muss sich nur ein bisschen umschauen, um zu sehen, wie andere Länder mit den dunklen Seiten ihrer Geschichte umgehen: in Russland mit der Sowjet-Diktatur, in China mit Maos Kulturrevo­lution oder den Opfern des Aufstands von 1989, in der Türkei mit dem Genozid an den Armeniern.

Da setzt „unsere“Erinnerung­skultur einen Kontrapunk­t. Sie betont die kollektive Schuld, das Abrutschen einer Gesellscha­ft in die Diktatur und Gewaltherr­schaft und das millionenf­ache Leid. Je populärer aber diese Erinnerung­skultur wird, je mehr erinnert wird, desto größer wird die Versuchung, dem Schmerz und Leid auszuweich­en. Die Gefahr besteht, dass die Erinnerung­skultur zu einem glatten Ritual gerät, das den Beteiligte­n nicht mehr das Äußerste abverlangt.

*** „Intermezzo“ist unsere KulturKolu­mne, in der Redakteure der Kultur- und Journal-Redaktion schreiben, was ihnen die Woche über aufgefalle­n ist.

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