Wie mit Erinnerungen umgehen?
Wissenschaftler haben die menschliche Erinnerungsfähigkeit gründlich entzaubert. Denn Erinnerungen verändern sich im Lauf der Zeit – und Erinnerungen können mit relativ geringem Aufwand manipuliert werden. Wer nur oft genug nach einem Ereignis gefragt wird, das in seinem Leben nie stattgefunden hat, kann plötzlich Erinnerungen an diese Fiktion bekommen – Erinnerungen, von denen man selbst nicht weiß, dass sie nicht stimmen, dass sie von außen stammen.
Man möchte sich gar nicht ausdenken, was das zum Beispiel für Zeugenaussagen vor Gericht bedeutet – oder aber für suggestiv geführte Verhöre, in denen die eindringlichen Fragen dafür verantwortlich sind, dass beim Befragten falsche Erinnerungen entstehen, die der Befragte danach nicht mehr von echten Erinnerungen unterscheiden kann.
Mit Erinnerungen ist es also so eine Sache. Einen anderen Aspekt des Erinnerns streifte in dieser Woche ein Gespräch mit Benigna Schönhagen, der Leiterin des Jüdischen Kulturmuseums in Augsburg. Da ging es um die Erinnerungskultur, also um das kollektive Erinnern. Vor allem geht es unter dem Schlagwort Erinnerungskultur an das Erinnern an den Nationalsozialismus, die Verbrechen in dieser Zeit und die Millionen Opfer.
Dass der eigenen nationalen Gewalt-Vergangenheit, dem in Deutschland und Europa von Deutschen begangenen Unrecht kollektiv gedacht wird, ist auch im 21. Jahrhundert nicht selbstverständlich. Man muss sich nur ein bisschen umschauen, um zu sehen, wie andere Länder mit den dunklen Seiten ihrer Geschichte umgehen: in Russland mit der Sowjet-Diktatur, in China mit Maos Kulturrevolution oder den Opfern des Aufstands von 1989, in der Türkei mit dem Genozid an den Armeniern.
Da setzt „unsere“Erinnerungskultur einen Kontrapunkt. Sie betont die kollektive Schuld, das Abrutschen einer Gesellschaft in die Diktatur und Gewaltherrschaft und das millionenfache Leid. Je populärer aber diese Erinnerungskultur wird, je mehr erinnert wird, desto größer wird die Versuchung, dem Schmerz und Leid auszuweichen. Die Gefahr besteht, dass die Erinnerungskultur zu einem glatten Ritual gerät, das den Beteiligten nicht mehr das Äußerste abverlangt.
*** „Intermezzo“ist unsere KulturKolumne, in der Redakteure der Kultur- und Journal-Redaktion schreiben, was ihnen die Woche über aufgefallen ist.