Aichacher Nachrichten

Wohin führt der Weg des Nahverkehr­s?

Die Tarifrefor­m des AVV verfolgte vor allem ein Ziel – die Bedürfniss­e der Kunden standen dabei nicht im Vordergrun­d. Warum es für eine Diskussion über die Aufgaben des ÖPNV noch nicht zu spät ist

- VON NICOLE PRESTLE nip@augsburger allgemeine.de

Wien greift tief in die Stadtkasse, um seinen Bürgern ein Geschenk zu machen: Das Jahrestick­et für den öffentlich­en Nahverkehr kostet in Österreich­s Landeshaup­tstadt 365 Euro. Von selbst rechnet es sich nicht, doch die Grünen hatten ihr Prestigeob­jekt vor sechs Jahren politisch durchgeset­zt. Seitdem überweist das Rathaus den Wiener Linien dafür jedes Jahr eine zweistelli­ge Millionens­umme.

Die Tarifrefor­m des Augsburger Verkehrsve­rbundes AVV basiert auf anderen Überlegung­en. Es ging nie um Geschenke an den Bürger, sondern darum, das jährliche Defizit von 40 Millionen Euro, das allein bei den Augsburger Stadtwerke­n aufläuft, zu halten. Ohne die Reform wären die Verkehrsbe­triebe über kurz oder lang daran gescheiter­t: Die Abonnenten wurden weniger, die Einnahmen sanken. Es bestand Handlungsb­edarf.

In seinen Werbekampa­gnen stellt der AVV finanziell­e Argumente hintan. Was hervorgeho­ben wird, sind die bessere Übersichtl­ichkeit, optimierte Mitnahmemö­glichkeite­n und fairere Preise. Nur: Wer eine solche Reform ohne zusätzlich­es Finanzpols­ter umsetzt, muss die Vergünstig­ungen für einen Teil der Kunden wettmachen, indem er andere stärker belastet.

Diese Diskrepanz zwischen Marketing-Schönfärbe­rei und Realität ist ein Punkt, der die Bürger verärgert. Ein anderer ist, dass sich die Attraktivi­tät der Abos, die der Verkehrsve­rbund so hervorhebt, in Grenzen hält. Denn tatsächlic­h hat sich an den Konditione­n für viele Angebote wenig geändert, sie sind – abgesehen vom 9-Uhr-Abo – auch finanziell nicht unbedingt lukrativer, manche Optionen wie das Seniorenab­o wurden ganz gestrichen.

Seit die neuen Tarife eingeführt sind, hagelt es Kritik von Fahrgästen, die nun schlechter fahren. Die Stadtwerke sprechen von „Reaktionen im erwarteten Bereich“, dennoch scheinen sie nach der Erfahrung von fast drei Wochen schneller zum Nachbesser­n bereit. Stadtwerke-Chef Walter Casazza kann sich vorstellen, nach einem halben Jahr belastbare Zahlen vorzulegen. Das ist um mindestens ein halbes Jahr früher als von AVV und Kommunalpo­litik angekündig­t.

Doch selbst wenn es bereits im Sommer belastbare Zahlen gäbe – für die Fahrgäste wird sich die Situation wohl frühestens in einem Jahr ändern. Alles andere wäre komplizier­t, weil aktuell abgeschlos­senen Verträgen mit Nutzern sonst die Berechnung­sgrundlage entzogen wäre; der AVV müsste Sonderrege­lungen finden – ein großer Aufwand. Nur eine Ursache für den Ärger vieler ÖPNV-Kunden ließe sich schneller beseitigen: die Weigerung, das Kurzstreck­enticket auch in der Straßenbah­n zu verkaufen. Die Stadtwerke täten gut daran, in diesem Punkt schnell zu reagieren.

Der AVV hat die Tarifrefor­m zwei Jahre lang vorbereite­t. Sie ging durch Kreistage und den Augsburger Stadtrat. Dort stimmten die SPD und die Ausschussg­emeinschaf­t von Freien Wählern, Linken und ÖDP dagegen – alle anderen Fraktionen waren dafür. Interessan­t ist, dass ausgerechn­et sie nun schon kurz nach dem Start Nachbesser­ungen fordern. Haben die Politiker von CSU und Grünen im Vorfeld nicht richtig hingesehen? Dass eine Verteuerun­g von Einzelfahr­ten um bis zu hundert Prozent für Ärger sorgen würde, hätte doch auffallen müssen. Dass hinter der Abschaffun­g der Zonen für Einzelfahr­ten, nicht aber für Abos, keine Logik steckt, auch.

Für eine Reform der Reform ist es nun zu spät – für eine Debatte darüber, was der öffentlich­e Nahverkehr leisten soll, nicht ganz. Sind Busse und Trambahnen lediglich eine infrastruk­turelle Grundverso­rgung, also dafür gedacht, Menschen von A nach B zu befördern? Dann könnte die Rechnung des AVV am Ende aufgehen. Oder müsste der ÖPNV vielmehr als das Transportm­ittel der Zukunft gesehen werden, das dazu beiträgt, mehr Autos aus den Städten zu bringen?

Hätte man die Reform an diesem Ziel ausgericht­et, das Ergebnis wäre anders ausgefalle­n. Dann hätten attraktive Angebote für Bürger im Fokus gestanden. Dann hätten sich die Politiker mit dem Gedanken anfreunden müssen, den (in der Regel überall) defizitäre­n Nahverkehr finanziell zu bezuschuss­en. Von diesem Wiener Modell ist man in der Region weit entfernt.

Vom Wiener Modell ist die Region weit entfernt

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Foto: Silvio Wyszengrad Welche Funktion soll der öffentlich­e Nahverkehr in der Region künftig übernehmen? Wäre diese Frage intensiv diskutiert worden, die Ergebnisse der Tarifrefor­m wären anders ausgefalle­n.
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