Der junge Dichter mit Herzklopfen im Wald
Heute vor 120 Jahren wurde Bertolt Brecht geboren. Die Westlichen Wälder inspirierten ihn zu einem seiner markantesten Gedichte. Ausgangspunkt war ein Spaziergang mit der Klasse, vermutet Brechtforscher Jürgen Hillesheim
Brechts lyrischer Zyklus „Die Hauspostille“gilt nicht nur als einer der bedeutendsten des 20. Jahrhunderts. Fast alle der 50 Gedichte, die in ihn aufgenommen wurden, entstanden in der Augsburger Zeit des Autors. Teils zählen sie, wie „Erinnerung an die Marie A.“und die „Legende vom toten Soldaten“, zu den berühmtesten Brechts überhaupt und beinhalten oft „noch mehr Augsburg“als nur die Entstehungszeit. Das verdeutlicht sich in Interpretationsschichten, die die Forschung in den letzten Jahren freigelegt hat. An einem Ende scheint man diesbezüglich noch lange nicht angelangt. Hier geht es vielfach um Anspielungen auf autobiografische Zusammenhänge, damit gelegentlich auch um Tiefergehendes, um Dinge, die mit der Psyche des jungen Autors und der Ausprägung der speziellen Brecht’schen Ästhetik zu tun haben. Eine weitere Novität sei hier vorgestellt; heute, zu seinem 120. Geburtstag.
Eines der markantesten wie gleichzeitig auch verstörendsten Gedichte der Hauspostille ist „Vom Tod im Wald“, ursprünglich auf 1918 datiert, jedoch spätestens im Sommer 1916 entstanden. Denn Brecht, dem es offensichtlich sehr am Herzen lag und der ein Leben lang an ihm herumtüfteln sollte, hatte es Mitte 1916 dem ehemaligen Augsburger Generalmusikdirektor und Komponisten Carl Ehrenberg unbescheiden zur Vertonung vorgeschlagen. Es ist eines der frühesten Gedichte der Hauspostille überhaupt, und seine Geschichte geht noch wesentlich weiter zurück in das Augsburger Umfeld Brechts und seine Persönlichkeitsstruktur.
Aus dem Jahr 1913 stammen die ersten überlieferten Tagebuchaufzeichnungen Brechts, die ihn als einen hochsensiblen, kränklichen Gymnasiasten ausweisen, der Herzprobleme hatte und befürchten musste, nicht mehr am Alltags-, das heißt auch am Schulleben des Realgymnasiums teilhaben zu können, also schlicht: auf der Strecke zu bleiben. Dies sublimierte er mit seinem dichterischen Talent, das schon erstaunlich weit entwickelt war und mit dem er seine Mitschüler zunehmend beeindrucken konnte. Trotzdem: Auch an der Normalität teilzu- war ihm wichtig, existenziell, und der Leidensdruck war groß, wenn das infrage gestellt war. „Erleben tue ich nichts, außer in der Schule. […] Solange ich dahinein kann, ist alles gut“, schreibt Brecht am 8. Juni 1913. Seine Angst, hinter anderen an Lebenstüchtigkeit zurückzubleiben, war für ihn erschreckend, dem fünfzehnjährigen Gymnasiasten zutiefst eingeschrieben. Sein Tagebuch ist voller Belege dafür. Die psychoanalytische Brechtforschung führte das auf einen Mutterkonflikt zurück, der sich u. a. im ersten großen Augsburger Drama „Baal“darstelle; dessen erste Fassung entstand im Frühjahr 1918.
Doch es geht viel weiter zurück, bis zu Brechts Nöten des Sommers 1913, abgebildet in „Vom Tod im Wald“. Das Gedicht zeigt in drastischen Bildern den schrecklichen Todeskampf eines Mannes im Wald, an der Wurzel eines Baumes, in die er sich im Schmerz und in Angst „verkrallt“, und benennt damit Dinge, die der bildungsbürgerliche Leser in einem Gedicht nicht lesen will. Zunächst noch hilfsbereit, verlachen und verachten ihn seine Kameraden ab dem Moment, in dem sie wahrnehmen, dass er nicht mehr am „Leben“teilhaben kann, nichts mehr wert ist. Geradezu biblische Dimensionen erreicht das Flehen und Leiden des Sterbenden an der Baumwurzel, am Holz. Dies wird sich später werkintern wiederholen, in der Sterbeszene Baals. Es handelt sich um einen der außergewöhnlichsten und berührendsten Mohaben, mente im gesamten lyrischen Schaffen Brechts.
Doch wann ist „Vom Tod im Wald“entstanden? Wie kommt Brecht auf eine solche Idee, ein so außergewöhnliches, absurd anmutendes Szenario? Er hat grundsätzlich erstaunlich wenig Neues einfach „erfunden“, sondern Material aus der Literaturgeschichte oder der eigenen Biografie verwertet, weitergedacht. Das ist eines seiner wichtigsten Schaffensprinzipien. Die Szenerie aus „Vom Tod im Wald“findet sich tatsächlich in einem „Archetypus“in Brechts eigenem Leben, in Zusammenhang mit der Befürchtung, von den Mitschülern, den Kameraden ausgesondert zu werden. Sich häufig wiederholende Erfahrungen gruben ihm dies tief ein. Von großer Dichtung sei also zurückgeblickt auf eine scheinbare Banalität mit traumatischen Auswirkungen: Brecht hält in seinem Tagebuch am 14. Juni 1913 fest:
„Mittags mit Klassenausflug nach Gablingen […] Herzklopfen, rasch, aussetzend. Von Peterhof auf nach Adelsried. Unendlich lang. Wenn ich im Wald gewußt hätte, daß der Weg noch so weit ist, wäre ich liegengeblieben.“
Brecht, so berichtet er weiter, fiel beim Laufen immer weiter zurück, bis er „ganz hinten“war. Zwei seiner Kameraden, zwischen denen er ging, halfen ihm, wollten ihn, wenn man bei der Bildlichkeit des Gedichts bleibt, „heimtragen“.
Es ist eine frappant genaue Entsprechung: Einer befürchtet zurückgelassen, verachtet zu werden von den Kameraden, weil er „nicht mehr kann“; in einer Not, die er in der Ausflugsituation grade noch bewältigen konnte – und zwar, wie im Gedicht, ausgerechnet im Wald bzw. konkret in Augsburgs Westlichen Wäldern. Diese tiefe Angst verarbeitet Brecht dann in Literatur, auf die Spitze getrieben in krassen Bildern und am Ende naturmagisch überhöht. Er gestaltet eine Figur, die tatsächlich liegen bleibt, in derart eigener und ästhetisch herausragender Weise, dass das Gedicht in die Weltliteratur eingehen sollte. Vieles spricht dafür, dass der Ausgangspunkt in Brechts Neurose und, wenn man so will, in Augsburgs Westlichen Wäldern, die dann zum fiktiven „Hathourywald“werden, zu finden ist; der Ausgangspunkt eines Gedichts des lyrischen Zyklus, der unbestreitbar zu den Schmuckstücken der gesamten Literaturgeschichte zählt.
Noch bemerkenswerter allerdings ist die Frage nach der Entstehungszeit dieses Gedicht, über das wir nur genau wissen, dass es Mitte 1916 vorlag. Der mögliche autobiografische Anlass, drei Jahre weiter zurückliegend, gibt Raum für Spekulationen und drängt zur Frage, ab wann Brecht wohl in der Lage gewesen sein könnte, Lyrik solcher Einzigartigkeit und Qualität zu schreiben. Vielleicht schon einige Wochen vor dem Sommer 1916? Oder gar noch früher?
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Der Verfasser ist der Leiter der Brechtforschungsstätte in Augsburg