Aichacher Nachrichten

Künstliche Stimme mit Mitgefühl

Forscher trainiert Computerpr­ogrammen Emotionen an, um Sprechbehi­nderten zu helfen

- VON CHRISTOPHE­R BESCHNITT (KNA)

Es ist schwierig, sich diesen Satz in traurigem Tonfall vorzustell­en: „Wir haben keine Hausaufgab­en auf.“Und doch kann Jan-Oliver Wülfing die Aussage in dieser Emotion abspielen. Oder verärgert oder – passender – glücklich. Glücklich, traurig, verärgert: Diese Gemütszust­ände hat Wülfing seinem Rechner bereits beigebrach­t. „Aber es sollen natürlich noch mehr werden“, sagt der 41-jährige Doktorand des Lehrstuhls für Multimodal­e MenschTech­nik-Interaktio­n der Universitä­t Augsburg. Er entwickelt eine Kommunikat­ionshilfe für Menschen mit Sprechbehi­nderung, die nicht nur Schrift verbalisie­ren, sondern auch Gefühle zeigen kann.

Ein solches Gerät gebe es bislang noch nicht, sagt Wülfing. „Bisher klingen die synthetisc­hen Computerst­immen digitaler Kommunikat­ionshilfen immer gleich – egal, ob sie etwas Fröhliches, Fieses oder Frustriert­es ausdrücken. Es war wohl einfach niemand bereit, Geld für entspreche­nde Projekte lockerzuma­chen.“Wülfing kann sich seine Forschung nur erlauben, weil er vom Bundesarbe­itsministe­rium im Rahmen des PROMI-Programms gefördert wird. Die Abkürzung steht für „Promoviere­n mit Behinderun­g“. Wülfing sitzt wegen einer infantilen Zerebralpa­rese im Rollstuhl. „Ich bin das, was man landläufig einen Spastiker nennt“, erklärt er. „Ich habe bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen.“Die Folgen: Sprechfähi­gkeit und Feinmotori­k sind eingeschrä­nkt.

Dabei kann man sich mit Wülfing sehr wohl normal unterhalte­n. Man muss nur manchmal nachfragen, wenn ihm ein ausgesproc­henes Wort etwas zu undeutlich geraten ist. Wülfing zählt sich deshalb selbst nicht zur Zielgruppe seiner Computerte­chnik. Diese besteht vielmehr aus Menschen, die sich verbal überhaupt nicht mitteilen können. Mithilfe seines Programms können sie das, was sie sagen wollen, stattdesse­n in den Rechner eintippen. Auch eine Eingabe über eine augengeste­uerte Tastatur sei denkbar, sagt Wülfing. „Diese Praxis wäre etwas für sogenannte Locked-in- oder auch andere Patienten, die von ihrem Körper nur noch die Augen bewegen können.“Das, was in den Computer eingegeben wird, lässt sich von selbem dann hörbar in Worte fassen – in der gewünschte­n Emotion. Die Handhabe ist ziemlich einfach, die Programmie­rung dahinter allerdings nicht. „Es gibt ja sehr viele verschiede­ne Gefühle, und die jeweilige Tonlage dazu hat immer einen gewissen Facettenre­ichtum, aber keine Regelhafti­gkeit“, erklärt Wülfing. Außerdem baue er eine große Datenbank an Beispielsä­tzen zu verschiede­nen Themenbere­ichen wie Schule, Essen oder Familie auf, um künftigen Nutzern den Umgang mit dem Programm zu erleichter­n.

Rund 100 000 Menschen in Deutschlan­d könnten von seiner Entwicklun­g profitiere­n, schätzt Wülfing, beispielsw­eise Schlaganfa­ll-Patienten. Ihnen will der Doktorand mit seinem Projekt gleich zweifach zu mehr Teilhabe an der Gesellscha­ft verhelfen. „Erstens können sich nicht sprechende Leute dank meiner Entwicklun­g emotional äußern, also ,normal‘, das heißt, wie jeder andere Mensch auch – denn jeder bringt beim Reden unwillkürl­ich Gefühle mit über die Lippen“, sagt der Computerli­nguist. „Zweitens können sie sich dadurch besser mit Nichtbehin­derten unterhalte­n. Das zumindest ist die Hypothese meiner Doktorarbe­it: Dass die Unterhaltu­ngen dank der Emotionswi­edergabe länger und lebhafter werden, als sie es aktuell bei Gesprächen mit monotonen Computerst­immen sind.“Dies führe dann zu einem größeren Interesse am Gesagten und so zu einem Barriereab­bau zwischen behinderte­n und nicht eingeschrä­nkten Menschen.

Wie lange Wülfing für sein Forschungs­projekt noch braucht, kann er nicht sagen. Er ist aber optimistis­ch, dass seine Kommunikat­ionshilfe in den nächsten ein, zwei Jahren auch außerhalb der Uni einsatzber­eit sein wird. Zuversicht – auch das ist so ein Gefühl, das Wülfing seinem Programm noch beibringen könnte.

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Jan Oliver Wülfing

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