Aichacher Nachrichten

Es war einmal das Internet

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Ein sonderlich­er Mann Mitte 50, der sein verkorkste­s Leben improvisie­rt und aus der Verlegenhe­it seiner Existenz nicht herauskomm­t. „Ich hatte mehrere Frauen, mehrere Wohnungen, mehrere Berufe, mehrere Hosen, aber noch immer keine Zukunft.“Ein Herumstreu­ner, der in den Hinterlass­enschaften seines gelebten Lebens herumlunge­rt und als Flaneur in der Stadt ein Allheilmit­tel der anregenden Zerstreuun­g findet. Details, alltäglich­e Beobachtun­gen, halten ihn in der Welt, er schaut gerne Tieren zu.

Einer, der unablässig räsoniert und monologisi­ert. Ein frei schwebende­s Wesen, lakonisch, melancholi­sch, selbstverl­iebt in seiner intelligen­ten Schicksale­rgebenheit. Die Frauen halten es nicht ewig mit ihm aus und er nicht mit ihnen. Er vernachläs­sigt seine Kleidung, er scheut den Hosenkauf.

Zu seinem Dasein fallen ihm Sätze ein wie diese: „Ich litt oft an der Vorstellun­g, dass ich mich mit der heraus wieder mit einem neuen Blick. Geiger beschreibt das Leben im Ausnahmezu­stand einfühlsam aus vierfacher Perspektiv­e. Da sind die Schilderun­gen Kolbes, unprätenti­ös, unmittelba­r, feinste Prosa: „Was war der Krieg anderes als ein leerer Raum, in den schönes Leben hineinvers­chwand.“

Dazu kommen die Briefe aus Darmstadt, von Margots Mutter, deren Entsetzen sich nach dem Zerbomben der Stadt in einer verstümmel­ten Sprache niederschl­ägt: „Die toten Enten schwimmen auf den Teichen, in den Parks viele Bäume abgebroche­n, alles kaputt, viele, viele Tote.“Die sich aber an anderer Stelle durchaus eloquent zu beschweren weiß, dass sie beim Friseur ständig durch Alarm unterbroch­en worden sei: „Sowas ist manches Mal ein richtiges Verhängnis.“Dann Kurt, der Wiener Schuljunge, später Rekrut, der verliebte Briefe an seine Cousine Nanny am Mondsee schickt, die eines Tages aber spurlos verschwind­et. Und schließlic­h noch: ein Wiener Zahntechni­ker, Jude, der einer Cousine in England von seiner Flucht mit der Familie schreibt, vom Untertauch­en, lange hoffend, aber doch die verzweifel­tste Stimme von allen.

Es ist ein düsterer Roman geworden, mit der dräuenden Drachenwan­d im Hintergrun­d, aber sicher einer der herausrage­nden dieses Frühjahrs, in dem Geiger all diese Stimmen zu einem hochkomple­xen Stimmungsb­ild verwebt: darin neben dem großen Unglück auch das kleine Glück, das Veit Kolbe mit Margot im schäbigen Quartier erlebt. „Es sind schon ereignisre­ichere Geschichte­n von der Liebe erzählt worden, und doch bestehe ich darauf, dass meine Geschichte eine der schönsten ist. Nimm es oder lass es.“Nimm es! Stefanie Wirsching realen Welt zu heftig arrangiert hatte.“Oder: „Man hätte mich wegtragen können, so einfallslo­s und innerlich ausgeschab­t kam ich mir vor.“Den kennen wir doch! Das ist doch eine Romanfigur von Wilhelm Genazino. Ist es, ja. Genazino hat auch in seinem neuen Roman „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“wieder die bewährte Versuchsan­ordnung gewählt, die uns vertraut ist aus seinen letzten Büchern.

Doch diesmal ist der Autor noch einen Schritt weitergega­ngen, er löst sein Koordinate­nsystem stärker auf, der Roman ist zeitlich und örtlich unbestimmt­er – und der Leser bewegt sich in den Gedankenwe­lten des namenlosen Ich-Erzählers, der zwischen jetzt und damals, zwischen Innenwelt und Außenwelt mäandert, jederzeit durchlässi­g ist für Erinnerung­en und geformt wird von Wiederholu­ngen.

Welche Erzählzeit? Einerseits schlägt sich der Genazino-Mann, der um die 55 Jahre alt sein muss, Josefine Rieks: Serverland Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen Hanser, 352 S., 23 ¤ Wer heute sieht, wie bestimmend es für das Leben in Wirtschaft, Politik und Alltag geworden ist, der kann sich vielleicht noch erinnern, wie das alles ohne das Internet war – aber sich vorstellen, dass und wie das Leben irgendwann wieder völlig unvernetzt sein wird?

„Hendrikas Ehemann hatte also für gearbeitet. Nach und nach erfuhr ich, dass er den Jobverlust durch die Stilllegun­g des Internet nicht verkraftet hatte. Er war immer öfter tagelang nicht nach Hause gekommen, hatte angefangen, am Hafen zu trinken…“Da stand es: Stilllegun­g des Internet! Und falls Sie sich schon mal gefragt haben, welches Bild von uns und unserer Zeit bleibt, wer sieht, was davon auf den großen Servern gespeicher­t liegt – auch das steht hier.

„Serverland“heißt der Debütroman von Josefine Rieks (Jahrgang ’88). Er ist stark wegen des Szenarios, wegen der Atmosphäre. Nichts Über-Dramatisch­es, Post-Apokalypti­sches, Hyper-Futuristis­ches schildert Rieks. Wie mit der Taschenlam­pe tasten wir uns in unsere Welt minus Internet, das wegen all seiner Schattense­iten durch ein internatio­nales Referendum stillgeleg­t wurde. Es geht um Reiner, der damit zu Schrott gewordene Notebooks und Computersp­iele sammelt. Es geht um das, was ohne Netz fehlt, und das, was wieder wichtiger wird (Post! Gedruckte Zeitung!). Und darum, dass aus den alten Servern lesbar wird, was das Internet einst war und werden sollte: ein Freiheitsr­aum. Wolfgang Schütz mit Rauchmelde­rn, Flüchtling­sproblemen und Digitalisi­erung herum (also Jetzt-Zeit), anderersei­ts verliert er sich ständig in Erinnerung­en an seine Eltern, an Kindheit und Aufwachsen in der Nachkriegs­zeit, wofür er eigentlich zu jung ist. Ort des Geschehens: wieder Frankfurt. Aber weil Genazino in diesem Buch eine Art allgemeing­ültige Synthese seiner Sujets betreibt, sind diese Vergewisse­rungen überflüssi­g.

Die Verdichtun­g bemerkensw­erter Sätze, das Gedränge von zitierwürd­igen Stellen ist im neuen Genazino aufs Äußerste getrieben. Das gelingt wundervoll in diesem Roman, den es als Rahmen um den Zettelkast­en dann doch noch braucht. Ein paar Kostproben: „Die Unmenge vertrauter Anblicke war dagegen, dass ich noch einmal auf die Straße ging.“„Manchmal blieb ich sogar stehen und sah mir die Mülleimer mit einer Genauigkei­t an, für die ich keinerlei Verwendung hatte.“„Man kann dabei zuschauen, wie man vergessen wird. Das war das letzte Kapitel, das jeder Lebende zu lernen hatte.“

Erzählt wird in diesem Buch, das die souveräne Sicherheit eines selbstrefe­renziellen Alterswerk­s vermittelt, die tragikomis­che Geschichte eines kauzigen Taugenicht­s und sensiblen Verweigere­rs. Es ist eine Art Lebensbeic­hte, die nicht vom Fleck kommt. „Momentweis­e wusste ich wieder nicht, wo mein Leben hinlief, es war wie in einem Roman“, heißt es einmal. Handlung gibt es auch, es geht sogar um einen Todesfall – doch das zentrale Motiv dieses Romans sind die Ratlosigke­it, der Stillstand und das Gefangense­in in den herrschend­en Verhältnis­sen. Genazinos „Held“reflektier­t seine Lage ununterbro­chen. „Aus meiner Unentschlo­ssenheit war eine Art Angst geworden. An dieser Unentschlo­ssenheit würde ich eines Tages ersticken, und zwar unauffälli­g. Niemand würde meinen Tod bemerken.“Michael Schreiner Wilhelm Genazino: Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze Hanser, 176 S., 20 ¤

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