Was für ein phänomenal irres Buch
Die unbequeme Frage dieses Romans lautet: Darf man sich vor den schrecklichen Schicksalen anderer Menschen flüchten – weil einem das alles zu anstrengend und zu undurchsichtig ist, weil man grad anderes zu tun hat oder sich eben viel lieber mit anderem beschäftigt?
Aber nein, „Die kommenden Jahre“ist keines dieser Bücher mit moralischem Zeigefinger oder einer moralisierenden Botschaft, wie es sie auch zur Flüchtlingsproblematik bereits reichlich gibt. Das Künststück des seit langem zuverlässig interessanten österreichischen Autors Norbert Gstrein ist es vielmehr, dass es praktisch das Gegenteil ist: ein klug gestricktes, unterhaltsam erzähltes und mutig unentschiedenes Buch über die Moral nämlich.
Richard ist Gletscherforscher, Österreicher, eher ein Zauderer und Eigenbrötler; Natascha, mit der ihn nur noch die Reste einer Liebe, der Trauschein, ein gemeinsames Kind und der Wohnort in Deutschland
Hoppe hat Leitmotive eingewoben: Neben Ilf und Petrows Buch als Referenzrahmen auch Tocqueville und dessen Amerikareise, Tom Sawyer und den Gartenzaun, den er streichen muss. Der Filmemacher Quentin Tarantino taucht in Los Angeles kurz auf, ein Indianer präsentiert seine Schätze, immer wieder sind Edison und Ford, die beiden technischen Revolutionäre, ein Thema.
Im Roman selbst hört sich das so an: „Aber Fantasie ist nicht Wirklichkeit, was nicht gegen die Wirklichkeit spricht, sondern gegen die Fantasie, also gegen mich und Lizzy, denn Literatur ist nun mal auf Ordnungen aus, auf klare, einfache Rollen. Und verglichen mit der Literatur ist das einfache Leben höchst kompliziert, so kompliziert wie ein amerikanischer Diner, dem auch Ilf und Petrow nicht gewachsen waren.“In diesen zwei Sätzen, es sind nur zwei Sätze, geht es um die Fantasie und Wirklichkeit, die Literatur, Hoppes Reise und Ilf und Petrow, alles auf dichtestem Raum miteinander vermischt.
Was es dem Leser nicht einfach macht. Das fängt schon beim Titel an: Ein Amerika-Buch, das „Prawda“heißt, das im Russischen „Wahrheit“bedeutet. Ein Wort, das als Titel für die kommunistische Propaganda-Zeitung weltbekannt geworden ist, aber eben nicht im Sinne von „Wahrheit“, sondern von ideologisch gefärbter Weltsicht. Schon das ist ein Vexierspiel, in dem nichts wirklich festzumachen ist und genau deshalb passt. Hoppe öffnet auch in diesem Roman einen Raum, in dem sie mit Worten die Wirklichkeit zu den tollsten Gebilden verwandelt. Ein Roman, der nicht auf ein Ende hin gelesen werden will, sondern Wort für Wort und Satz für Satz. Richard Mayr verbinden, ist Schriftstellerin und sehr engagiert. Darum witzelt sie manchmal, er sei erkaltet, was alles Menschliche angeht – und meint es gar nicht witzig. Dieser Konflikt eskaliert, weil sich Natascha angesichts all der Flüchtlinge aus dem in der Katastrophe versinkenden Syrien entschließt, das ererbte Ferienhaus am See einem geflohenen Ehepaar mit zwei Kindern zur Verfügung zu stellen. Und während sie sich samt einer Zeitungskolumne und einem Schreibprojekt mit Familienvater Bassam in diese Mission wirft, fliegt Richard nicht nur äußerlich zu Forschungszwecken nach Nordamerika, sondern fremdelt auch innerlich mit Farhis und dem Unternehmen. Woher etwa soll er wissen, ob der von den anderen Flüchtlingen gefürchtete Bassam wirklich ein Bauunternehmer und nicht Oberst in Assads Regime war?
Extern eskaliert die Lage weiter, als sich im Haus am See immer wieder einheimische Jugendliche provozierend Clemens J. Setz: Bot – Gespräch ohne Autor Suhrkamp, 166 S., 20 ¤ Benjamin von Stuckrad Barre: Ich glaub, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgend wo hinlegen Kiepenheuer & Witsch, 320 S., 20 ¤ Leider muss diese Buchbesprechung scheitern. Der Inhalt dieses Werkes ist schlicht nicht wiederzugeben. Aber, na ja, war vielleicht abzusehen, dass es nach den schon verschroben genialischen Romanen wie „Indigo“und „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“mit dem österreichischen Jungstar Clemens J. Setz mal so weit kommen würde.
Gescheitert ist auch der Versuch von Angelika Klammer, mit dem 35-Jährigen ein Interviewbuch zu machen wie zuvor mit der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. Mit Setz kam nichts Verwertbares heraus. Stattdessen nun: „Bot – Gespräch ohne Autor“. Bot kurz für Robot, wie die automatisierten Profile im Internet. Heißt: Sie hat die Fragen stattdessen an das digitale Tagebuch des Autors gerichtet. Sie fragt: „Möchten Sie manchmal die Zeit anhalten?“Die Textsuche findet eine Stelle mit passenden Wörtern. Die Antwort also: Ein Nachdenken darüber, wie anders die Welt vor der Erfindung der Zeitlupe gewesen sein mag. Irre? Jawohl! Und phänomenal. Auch, weil so immer wieder aberwitziges Assoziations-Dada entsteht. Aber vor allem, weil Clemens Setz einfach tollstes Zeug denkt, aus Zeitungen sammelt, auf Reisen notiert. Etwa über die Goldene Qualle, die ein Kleid aus Algen trägt und sich allein von deren Photosynthese ernährt. Über blinde Flecken im Gesichtsfeld. Über den kürzesten Science-Fiction-Roman der Welt. Über die Landschaft hinter der Mona Lisa. Na ja, und so viel mehr eben. Wolfgang Schütz zeigen und schließlich sogar die Kinder der Farhis entführt werden. Der Kernkonflikt bleibt aber der interne mit Natascha:
Sie fragte mich zu Recht, was ich ihr damit sagen wolle, als ich ihr von einem Bericht über Helfer in einem Aufnahmelager für Flüchtlinge erzählte, die sich beklagten, sie würden von Künstlern oder vielmehr von sogenannten Künstlern, wie sie mit penetranter Konsequenz genannt wurden, jedenfalls von auf die merkwürdigste Weise inspirierten Leuten, die immer gerade ein paar von den Ärmsten für eine Performance brauchten, beim Verteilen von Kleidern und Lebensmitteln behindert.
„Hast Du etwas dagegen, dass ich mit Bassam zusammenarbeite?“
„Nein“, sagte ich. „Wie könnte ich?“
„Was soll dann diese Gehässigkeit?“Ich versuchte mich zu verteidigen, machte das Missverständnis aber nur größer, als ich sagte, ich wolle die Motive so mancher von denen, die das Leben von anderen ausschlachten und sich so sicher sind, es sei nur zu deren Bestem, lieber nicht kennen.
„Die Motive?“
Natascha sagte es mit Abscheu. „Welche Motive hättest du gern?“„Du weißt, was ich meine.“„Schalt den Fernseher an, wenn du mir etwas von Motiven erzählen willst“, sagte sie. Sieh dir dort die Leute genau an, die so reden wie du, und dann frag dich bitte, ob du wirklich einer von denen sein willst.“
Man kann das misslungene Kommunikation nennen. Und man kann das durchaus stellvertretend verstehen für vieles, was in den aufgeladenen Debatten über Not und Moral gerade für Streit sorgt. Was Richard übrigens erforscht: den dramatisch fortschreitenden Klimawandel und was wir dagegen noch tun können, dass er unser aller Leben bald grundlegend verändern wird. „Die kommenden Jahre“eben. Das Große im Kleinen. Gutes Buch!
Wolfgang Schütz Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre
Hanser,
288 S., 22 ¤