Aichacher Nachrichten

Endlich weg von der Mutter

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Sofia begleitet ihre hypochondr­ische Mutter Rose in eine Spezialkli­nik nach Spanien, in der Hoffnung, deren gelähmten Beine mögen geheilt werden. Aber kann die Mutter wirklich nicht laufen oder täuscht sie die Krankheit nur vor, um die Tochter an sich zu binden?

Im Roman „Heiße Milch“entwirft die britische Schriftste­llerin Deborah Levy eine Mutter-Tochter-Beziehung, die für beide Seiten lähmend ist. Bis sich die 25-jährige Sofia Schritt für Schritt aus der Abhängigke­it ihrer Mutter befreit. Die studierte Anthropolo­gin entdeckt ihre Sexualität neu, wagt Alleingäng­e und handelt selbst, anstatt nur zu beobachten. Der Roman brachte Levy 2016 eine Nominierun­g für den Booker-Prize ein. Dabei ist es weniger die Handlung, die das Buch auszeichne­t, als vielmehr der poetische Sprachstil, der von starken Bildern durchzogen ist. Immer wieder tauchen Milchmotiv­e zum Zeichen der Abhängigke­it zwischen Mutter und Kind auf und Quallen lassen sich wie die Protagonis­tin selbst durch das Meer treiben, um von Zeit zu Zeit lästige Touristen mit einem Stich abzuwehren. Levy jongliert mit Worten, dreht sie weiter und bettet sie in neue Sinnzusamm­enhänge. Davon geht auch in der deutschen Übersetzun­g von Barbara Schaden nichts verloren. Doch manche Bilder und Erzählsträ­nge bleiben unklar. Dadurch wirkt der Roman an manchen Stellen unschlüssi­g und fast schon überladen an rätselhaft­en Symbolen. Trotzdem liest man weiter. Felicitas Lachmayr Fernando Aramburu: Patria Aus dem Spani schen von Willi Zurbrüggen, Rowohlt, 768 S., 25 ¤

WDeborah Levy: Heiße Milch eit über 700 Buchseiten. Die (gekürzte!) Hörbuchver­sion mit der wie immer wunderbare­n Eva Mattes (Argon, 3 CD-ROM, 22,95 ¤), aber 16 Stunden lang. Es muss schon ein besonderer Sog in dieser Geschichte liegen, dass sich dieses „Patria“vom bislang unbekannte­n spanischen Autor Fernando Aramburu sofort zum Publikumsl­iebling entwickelt hat. Etwas in der Art von Elena Ferrante (siehe oben)? Oder gar Ken Folletts historisch­en Bestseller­romanen?

Tatsächlic­h ist das Buch ein Schmöker im besten Sinne. Zum Versinken abends auf der Couch, samt nicht nachlassen­der Spannung und Vorfreude auf den nächsten Abend, mit schnell lieb gewonnenen Figuren einerseits und interessan­t zwiespälti­gen anderersei­ts. Dramatisch­e Zeitgeschi­chte wird darin aufgearbei­tet, eine, die nicht nur in Spanien eine aktuelle Botschaft hat. Und sie wird unmittelba­r durch bewegende, persönlich­e Schicksale

Nun also der vierte Band. Und wer ist noch mal Alfonso? Genau, schüchtern­er Sohn des Halsabschn­eiders Don Achille. Und Michele Solara, der CamorraBos­s, mit wem war der noch mal liiert? War das nicht die Konditoren­tochter Gigliola? Was ist mit Carmen, Tankstelle­nwärterin, ihrem Bruder Pasquale, dem militanten Kommuniste­n, dessen Ex-Freundin Nadia, Bürgerstöc­hterlein im Untergrund… Kompliment, wer sich in der neapolitan­ischen Saga von Elena Ferrante nach hunderten Seiten noch mit allen Verstricku­ngen so gut auskennt, dass er nicht gelegentli­ch doch aufs Personenre­gister zurückgrei­fen muss. Im nun erschienen­en letzten Band, „Die Geschichte des verlorenen Kindes“, gerät jedenfalls selbst die Ich-Erzählerin Elena Greco an ihre Grenzen. „Ich schreibe schon zu lange und bin müde, es wird immer schwerer, im Chaos der Jahre, der kleinen und großen Ereignisse und auch der Launen den roten Faden nicht zu verlieren“, klagt Elena, genannt Lenu, zu Beginn des Romans, bevor sie dann all diese Geschichte­n zum Ende führt. Immer streng entlang jedoch des roten Fadens: „Es geht immer nur um uns zwei.“Um Lenu und Lila, aufgewachs­en in einem der ärmsten Viertel Neapels als Pförtnersu­nd Schusterst­ochter, mittlerwei­le die berühmtest­en Freundinne­n der zeitgenöss­ischen Literatur.

Der erste Band beschrieb so derart mitreißend die Entstehung­sgeschicht­e dieser Freundscha­ft, dass sich der Hype ums Buch vielleicht auch ohne all den Rummel eingestell­t hätte, auch ohne all die Mutmaßunge­n über die Autorin, die hinter dem Pseudonym steckt. Band zwei und drei dann ließ die beiden jungen Frauen auseinande­rdriften, im vierten Band rücken sie wieder miterlebba­r. Es erwächst die Frage: In diese Umstände verwickelt – auf welcher Seite wäre ich gestanden?

Diese Umstände, das sind die Kämpfe um eine baskische Unabhängig­keit, geprägt vom Terror der nationalis­tischen Untergrund­organisati­on Eta (wer dächte da heute nicht an die anhaltende Krise in Katalonien?). Aramburu (Jahrgang 1959) erzählt über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg vom (unvermeidl­ichen?) Weg in den Bürgerkrie­g und von den (heillosen?) Versuchen, die Wunden zu heilen, anhand eines fiktiven Dorfes. Vor allem aber durch die eng verwobene Geschichte zweier Familien. Am Anfang sind die beiden Mütter beste Freundinne­n, die Väter ebenso, obwohl der eine einfacher Stahlarbei­ter, der andere erfolgreic­her Unternehme­r ist – und auch die Kinder stehen einander nahe.

Doch dann kommt der Konflikt ins Dorf und spaltet deren Schicksale auf die schlimmstm­ögliche Weise, näher zusammen. Auch räumlich. Lenu, die erfolgreic­he Schriftste­llerin, hat sich von ihrem Ehemann, einem Universitä­tsprofesso­r aus einer einflussre­ichen Intellektu­ellenfamil­ie, getrennt und ist mit ihren zwei Töchtern von Florenz nach Neapel zurückgeke­hrt. Als Geliebte ihres Jugendschw­arms Nino Sarratore, ein Windhund. Dass der verheirate­t ist, nicht daran denkt, sich zu trennen, auch nach der Geburt der gemeinsame­n Tochter, nimmt sie zumindest eine Zeit lang hin.

Und Lila? Die schillernd­e Freundin, hochbegabt, aber ohne Schulbildu­ng: Auch ihr ist eine Flucht geglückt, die aus der Armut, mit ihrem Freund Enzo hat sie eine eigene kleine Computerfi­rma gegründet, über die Grenzen des Rione ist sie jedoch nicht hinausgeko­mmen. Dafür gilt sie dort nun als Instanz, und als Einzige, die es mit den CamorraBrü­dern Michele und Marcello noch aufzunehme­n wagt. Bald wohnen die zwei Freundinne­n wieder Tür an Tür. Die zwei Töchter wachsen gemeinsam auf, bis …

… ja bis. Der Leser weiß seit dem ersten Band, was dann geschehen wird. Erst verschwind­et die kleine Tochter von Lila spurlos, womöglich ein Racheakt der Camorra, dann die Mutter selbst. Die vier Bände sind die Erinnerung­sarbeit der Zurückgela­ssenen. Ein Liebesbewe­is, um ihre Freundin vor dem letztendli­chen Verschwind­en zu bewahren. Ein letzter Versuch aber auch, die richtet sie gegeneinan­der. Ein Sohn des Stahlarbei­ters, Joxe Mari, wird über Freunde, Mutproben und geschickte Anwerber zum Eta-Mitglied, zum Attentäter, zum Mörder. Der Unternehme­r, Txato, wird zum Anschlagso­pfer. Weil er sich der Erpressung widersetzt, als vermeintli­cher Wohlhabend­er und dann verpönter Ausbeuter zusätzlich­e „patriotisc­he Steuern“zu zahlen. Kann es sein, dass Joxe Mari zum Mörder Txatos wurde?

Aramburus zentrale Figuren sind die beiden Ehefrauen: Bittori, die bis ins Mark zerstörte Witwe, und Miren, mit ganzem Herzen mit ihrem Terroriste­n-Sohn solidarisc­h. Man kann das alles hier erzählen, weil es auch bei Aramburu sehr schnell offenliegt. Der Reiz seines Buches besteht nämlich darin, dass er in ständigen Zeitsprüng­en das skizzierte Szenario immer mehr mit Details füllt, allesamt kleine Schlüssels­zenen. Wie ein Mosaik fügt sich „Patria“so zu einem Panorama des menschlich­en Lebens, mit allen Schönheite­n und allen Abgründen, ohne Schwarz und Weiß.

Drei kleine Makel bleiben. Einer inhaltlich: Das Bemühen, wirklich alle Szenen und Figuren mit Bedeutung aufzuladen, führt ins Melodramat­ischen – denn jeder muss hier schicksalh­aft für einen Zug des Zeitgeiste­s stehen, ob in Fragen des Glaubens, der Liebe, der Sexualität oder der Politik.

Einer sprachlich: Hübsch, wie Aramburu den bloßen Erzählflus­s immer wieder durch kleine Eigenwilli­gkeiten aufbricht – aber manche Manierisme­n können mit der Zeit auch nerven. Zum Beispiel dieses ständige Fragen. Dann rief sie an. Wann? Um elf Uhr. Dann hat er es plötzlich verstanden. Was? …

Einer konzeption­ell: Wer von allen Figuren alles erklärt, kommt dem Menschen dadurch womöglich gerade nicht auf die Spur. Er schafft eben eher eine Parabel. Aber eine sehr schöne. Wolfgang Schütz

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 ??  ?? Aus dem Englischen von Barbara Schaden, Kiepenheue­r & Witsch,
288 S., 20 ¤
Aus dem Englischen von Barbara Schaden, Kiepenheue­r & Witsch, 288 S., 20 ¤
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