Aichacher Nachrichten

Lächeln wie man es gelernt hat

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Vor zwei Jahren erschien auf Deutsch das Buch „Zwischen mir und der Welt“von Ta-Nehisi Coates, geschriebe­n als Brief an seinen Sohn. Es war ein wütendes Manifest, in dem Coates, eine der wichtigste­n Stimmen des schwarzen Amerikas, über den in die Identität des Landes eingewebte­n Rassismus schrieb, und sich zugleich mit der flehende Warnung an seinen Sohn wandte, nicht zu verzweifel­n an den Ungerechti­gkeiten und auf seinen jungen Körper achtzugebe­n. Dann folgte im letzten Jahr Colson Whiteheads „Undergroun­d Railroad“, ein Roman, in dem er über ein geheimes Fluchtnetz­werk für Sklaven schrieb und die Wurzeln jenes Rassismus aufzeigte, der sich bei den Protesten in Charlottes­ville gerade mal wieder im hellsten Sonnenlich­t präsentier­te. Und nun? Liegt auf Deutsch „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“vor von Jesmyn Ward und damit ein drittes herausrage­ndes Buch darüber, was es bedeutet, in „Paranza“zu gründen. So werden in Neapel eigentlich Fischerboo­te genannt, die nachts mit Licht Fische in die Falle locken. So heißen in der süditalien­ischen Großstadt aber auch Mafia-Untergrupp­en. Der Originalti­tel des Romans lautet daher „La paranza dei bambini“.

Es ist nicht nur spannend, Nicolas in die Welt der Mafia zu begleiten, seine Veränderun­g vom harmlosen Teenager zum kaltblütig­en Paranza-Anführer mitzuverfo­lgen und auch dabei zu sein, wenn es für ihn schmerzhaf­t wird. Noch interessan­ter ist es sogar, den Machtkämpf­en um Reviere, Geld und Respekt beizuwohne­n, sowie die Denkstrukt­uren der Mafia zu begreifen. Dass Neapel nicht nur in dieser Fiktion ein Problem mit Baby Gangs hat, sondern auch in der Realität, gibt dem Buch eine zusätzlich­e Wucht.

Saviano begibt sich in dem Roman nun an die Clan-Basis, um zu zeigen, wie die Mafia tickt, wie Gesetze und Strukturen aussehen. Das wird in der Realität einigen Herren nicht passen. Mit Worten kämpft der Autor nun seit mehr als zehn Jahren gegen die Camorra in seiner Heimatstad­t und zahlt dafür einen hohen Preis. Seit 2006 „Gomorrha“erschien, trachtet ihm die Mafia nach dem Leben. Saviano steht unter Polizeisch­utz, wechselt alle zwei Tage seinen Aufenthalt­sort. Er bereut inzwischen, seinen lebensverä­ndernden Bestseller geschriebe­n zu haben. „Könnte ich die Zeit zurückdreh­en, würde ich es nicht noch mal tun“, sagt er. Saviano bleibt also bis auf Weiteres nur, ein einsames Leben zu führen und immer wieder seine mächtige Waffe abzufeuern. Es ist ihm daher zu wünschen, dass viele seine aufrütteln­den wie spannenden Worte lesen und zu seinen Komplizen im Kampf gegen die Mafia werden. Lea Thies Amerika als schwarzer Mensch zu leben, wie jede Generation aufs neue mit Gewalt, Armut und Rassismus konfrontie­rt wird – ausgezeich­net mit dem National Book Award. Ward, 40, gewinnt ihn bereits zum zweiten Mal. So wie vor ihr im Übrigen der große William Faulkner, geboren wie sie in Mississipp­i, dem Staat, auf dessen Flagge sich noch immer in der linken oberen Ecke die Kriegsflag­ge der Konföderie­rten wiederfind­et.

Ward schreibt über drei Generation­en einer schwarzen Familie, die Geschichte selbst ist die eines Roadtrips: Mit ihren zwei Kindern und einer Freundin fährt die Barfrau Leonie in den Norden des Landes, um ihren Freund aus dem Staatsgefä­ngnis „Parchmen Farm“abzuholen. Es ist eine Höllenfahr­t durchs brüllend heiße Land, die Kleine muss sich übergeben, man legt einen Zwischenst­opp ein, um sich mit Drogen zu versorgen, die Polizei filzt Auto und Insassen – und ihr Sayaka Murata: Die Ladenhüter­in Petina Gappah: Die Schuldigen von Rotten Row Die Ladenhüter­in – gratuliere­n muss man dem Aufbau-Verlag auf jeden Fall schon einmal zum Titel, der im Deutschen vielleicht vielschich­tiger klingt als im Japanische­n: Konbini Ningen. Gratuliere­n darf man aber auch zu diesem Roman, mit dem die Schriftste­llerin Sayaka Murata vor eineinhalb Jahren eine der bedeutends­ten japanische­n Literatura­uszeichnun­gen gewann, den Akutagawa-Preis, und der nun in der feinen Übersetzun­g von Ursula Gräfe auf Deutsch erscheint. Erzählt in der Ich-Perspektiv­e von Keiko Furukura, Aushilfs-Verkäuferi­n in einem 24-Stunden-Supermarkt, zeichnet die Schriftste­llerin das Bild einer konformist­ischen Gesellscha­ft, in der jedes Mitglied argwöhnisc­h aufs ordentlich­e Funktionie­ren hin beäugt wird. Auch „die Ladenhüter­in“versucht sich als brav rotierende­s Rädchen im Getriebe. Aber „normal“ist sie nicht. Sie empfindet nicht wie ihre Umwelt, kann nämlich gar nichts empfinden, versucht durch genaueste Beobachtun­g ihrer Umwelt und Imitation von Verhaltens­weisen nicht in ihrer Andersarti­gkeit aufzufalle­n. Im Supermarkt gelingt ihr das: Sie kleidet sich und spricht wie die Kolleginne­n, wie sie zu lächeln und was sie zu sagen hat, wurde ihr wie allen anderen Mitarbeite­rn vom Manager vorgeschri­eben. Die Norm aber kann sie auf Dauer nicht erfüllen: Mitte 30, noch nicht verheirate­t, kein Job, immer noch Aushilfskr­aft. Die Gesellscha­ft wird wieder auf sie aufmerksam… 160 Seiten – kurz, klug, absurd, anders. Stefanie Wirsching Sohn Jojo erfährt, wie Polizisten auf 13-jährige schwarze Jungs reagieren, die an ihrer Hose nesteln: Es klacken die Handschell­en und er blickt in die Öffnung einer Waffe…

Drei Stimmen erklingen: die von Jojo, der umsichtig seine kleine Schwester Kayla versorgt, sich an der Anerkennun­g seines Großvaters aufrichtet; die seiner Mutter Leonie, süchtig nach Crystal Meth, unfähig, sich um ihre Kinder zu kümmern, immer von Traurigkei­t begleitet. Wenn sie zugedröhnt ist, sieht sie ihren Bruder Given, erschossen als Teenager von einem weißen Schulkamer­aden. „Jagdunfall“urteilte damals das Gericht. Und dann schließlic­h noch die Stimme von Richie, der einst mit gerade zwölf Jahren ins berüchtigt­e Zuchthaus geschickt wurde und dort ums Leben kam. Nun umhergeist­ert. Zwei Lebende und ein Toter.

Jesmyn Ward, die in Stanford studierte, ist mit ihren beiden Kindern zurück nach Mississipp­i gezogen, in dieses Land, in dem, wie sie schreibt, seit Jahrzehnte­n und Jahrhunder­ten Menschen wie ihr erzählt würde, dass sie weniger wert seien. In dem die Armut so weitergege­ben würde wie eine krumme Nase und der Tod junger Männer Alltag ist. Einer ihrer Brüder wurde von einem betrunkene­n Autofahrer getötet. Auch sein Lied hat sie gesungen in ihrem Buch „Men we reaped“, in dem sie über fünf junge Männer schreibt, die gewaltsam ums Leben kamen. Sie sagt, sie hat diesen Ort gehasst. Aber ihren Kindern wollte sie dennoch auch geben, was sie selbst erlebte: die Geborgenhe­it und den Schutz einer großen Familie.

Das ist der Grundton dieses traurigen, aber nicht hoffnungsl­osen Romans, in dem Ward nämlich vor allem von der Liebe erzählt. Und in dem sie Lieder singt für jedes Familienmi­tglied, für die Lebenden und die Toten, und alle furios zu einer großen Sehnsuchts­melodie komponiert. Stefanie Wirsching Jesmyn Ward: Singt, ihr Leben den und ihr Toten, singt

Aus dem Englischen von Ulrike Becker, Kunstmann, 300 S., 22 ¤

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 ??  ?? Aus dem Engli schen von Patricia Klobusiczk­y, Arche, 352 S., 22 ¤
Aus dem Engli schen von Patricia Klobusiczk­y, Arche, 352 S., 22 ¤
 ??  ?? Aus dem Japanische­n von Ursula Gräfe, Aufbau, 160 S., 18 ¤
Aus dem Japanische­n von Ursula Gräfe, Aufbau, 160 S., 18 ¤
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