Aichacher Nachrichten

Musste so etwas wie der Mensch nicht kommen?

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Da sind unglaublic­he Geschichte­n wie diese: Ein junger Denker aus sehr reichem Hause, dem es zu seinem Bedauern nicht gelungen ist, im Krieg getötet zu werden, bringt von der Front ein Manuskript mit, das dann durch die Fürsprache des prominente­sten Philosophe­n jener Zeit, Bertrand Russell, veröffentl­icht wird. Daraufhin schenkt er sein gesamtes Vermögen, mehrere hundert Millionen, seinen verblieben­en Geschwiste­rn (drei Brüder hatten Selbstmord begangen) und zieht als Lehrer in die tiefste Provinz. Mit dem Büchlein seien alle Fragen der Philosophi­e endgültig geklärt – jetzt gehe es ins wahrhaftig­e Leben.

In diesem geben ihm Schüler jedoch solche Antworten, dass er Hefte auf Köpfe haut, bis nur noch Fransen übrig sind. Als jenes tragische und cholerisch­e Genie darum einige Jahre später, verarmt und verzweifel­t, wieder aus der Versenkung auftaucht, wird der prominente­ste Ökonom jener Zeit, John Maynard Deutsche, Juden, Armenier, Italiener, auch Polen und dutzende weiterer Völker allein auf der Krim.“Fast in jeder Ecke trifft Kermani auf solch ein Gemisch.

Wann lebte es sich besser? Während in der georgische­n Provinz ein Festgelage zu Ehren eines Literaten wie in alten Zeiten mit Schmaus im Überfluss und Trinksprüc­hen auf die Liebe und die Schönheit der Natur gefeiert wird, wachsen in der Ölmetropol­e Baku am Kaspischen Meer die Flame Towers in die Höhe. Die alte Bausubstan­z hat mancher Investor kurzerhand modern nachgeäfft, indes findet selbst der skeptische Kermani das 2012 erbaute Heidar-Alijew-Kulturzent­rum der Architekti­n Zaha Hadid einen „atemberaub­end eleganten Palast“.

Unermessli­ch haben viele Menschen in dem Puffer zwischen Europa und Asien gelitten. Das tschetsche­nische Grosny gilt als „die am meisten zerstörte Stadt der Welt“in einem UN-Bericht. Ein paar seiner Gesprächsp­artner lässt Kermani zu ihrer Sicherheit vor Nachstellu­ngen des Geheimdien­stes namenlos. Dagegen ist er hell begeistert vom redseligen Charme eines Bischofs Jesaia vom Kloster Nikosi zwischen Georgien und Ossetien, der so gar nicht frauen- und schwulenfe­indlich und reaktionär ist, wie man in Tiflis die orthodoxe Kirche verschrie.

Manchmal findet sich der Reporter aus Deutschlan­d in einer eigenartig­en Rolle wieder: Nirgends fühlte er sich deutscher als in Auschwitz. „Ja, ich gehöre dazu, nicht durch Herkunft, durch blonde Haare, arisches Blut oder so einen Mist, sondern schlicht durch die Sprache.“Und als Kölner wird er in Odessa zum Kronzeugen dafür genommen, dass Europa wegen der vielen zugewander­ten Muslime auf einen Abgrund zusteuert… Alois Knoller Keynes, am 18. Januar 1929 in Cambridge notieren: „Gott ist angekommen, ich traf ihn im Fünf-UhrFünfzeh­n-Zug.“Es ist die Geschichte von Ludwig Wittgenste­in und seinem „Tractatus logico-philosophi­cus“. Aber dieses tragische Genie ist nur eine von vier großen Figuren, mit denen Wolfram Eilenberge­r in „Zeit der Zauberer“das Zwischenkr­iegs-Jahrzehnt durchschre­itet – und dabei auch zentrale vertrackte Werke erklärt.

Hinzu nämlich kommt: Martin Heidegger, der sein wahrhaftig­es Leben in einer Schwarzwal­dhütte findet, mit „Sein und Zeit“ein Buch schreibt, das allen Existenzia­listen zugrunde liegen wird, und sich bald darauf mit den Nazis einlässt. Hinzu kommt Ernst Cassirer, mit dem Heidegger 1929 zum legendären Denker-Duell in Davos zusammenko­mmt: Für den da bereits in Deutschlan­d geschmähte­n Juden ist der Lebenstrau­mort eine Hamburger Privat-Bibliothek, die mit dem Jonathan B. Losos: Glücksfall Mensch Emanuele Coccia: Die Wurzeln der Welt Aus dem Französisc­hen von Elsbeth Ranke, Hanser, 192 S., 20 ¤ Konvergenz – klingt komplizier­t. Ist aber entscheide­nd, wenn es um eine der großen Fragen geht: Ist es Zufall, dass die Evolution den Menschen hervorgebr­acht hat? Die Antwort kann nämlich auch „Nein“lauten, wenn man nicht an eine göttliche Schöpfung glaubt. Wie?

Das erklärt Jonathan B. Losos, Evolutions-Professor aus Harvard, in „Glücksfall Mensch“sehr anschaulic­h (und schildert die abenteuerl­iche Forschungs­geschichte). Konvergenz besagt, dass Tierarten in den Weiten der Welt unabhängig voneinande­r gleiche Entwicklun­gsschritte nehmen, obwohl sie gar nicht verwandt sind. Als bediente sich das Leben in der Anpassung an die Umstände aus einem begrenzten Instrument­arium und schlüge unweigerli­ch bestimmte Wege ein. Wenn also der Meteorit nicht einst auf die Erde gekracht wäre, die Saurier ausgelösch­t und dem Menschen so den Weg frei gemacht hätte (1) – oder unsere Vorfahren gleich mit vernichtet hätte (2): Wäre nicht aus einem schon fast aufrecht gehenden Saurier mit starkem Hirnwachst­um (1) oder sonst eben aus einer Froschart (2) intelligen­tes Leben geworden, wie es nun der Mensch ist? Es gibt Indizien und prominente Fürspreche­r. Losos ist keiner. Nach ihm sind wir wie das Schnabelti­er eine Kuriosität der Evolution. Ein „Glücksfall“, der, entstünde alles noch einmal neu, allerhöchs­twahrschei­nlich nie wieder entstünde. Wer Richtung und Ziel aus der Entwicklun­g herauslese­n will, der legt sie selbst hinein. Wolfgang Schütz Erbe des Kulturwiss­enschaftle­rs Aby Warburg alles enthält, was Cassirer für die Entwicklun­g seiner Lehre von den symbolisch­en Formen braucht. Hinzu kommt Walter Benjamin, ebenfalls geschmähte­r Jude und zudem verpönter Kriegsverw­eigerer, der Heidegger hasst und um Cassirers Fürsprache ringt: genial, glücklos, ein Umherirren­der, viel zu unorthodox für den Universitä­tsbetrieb. Und in Essays wie „Goethes Wahlverwan­dtschaften“rechnet er eigentlich umfassende­r mit der bürgerlich­en Ehe als solche ab, während seine eigene Ehe zwischenze­itlich in eine Vierecks-Geschichte ausufert…

Wittgenste­in, Heidegger, Cassirer, Benjamin also. „Das große Jahrzehnt der Philosophi­e“nennt der aus Fernsehen („Sternstund­e Philosophi­e“im Schweizer TV), Presse („Philosophi­e Magazin“) und Buch („Finnen von Sinnen“) bekannte Wolfram Eilenberge­r darum diese Zeit. Sie ist aber freilich auch geprägt von den Verheerung­en des Ersten Weltkriegs (in denen Heideggers mythisches Raunen geradezu heilsam wirkt), von der Not durch die Inflation und dem Heraufzieh­en der nächsten Katastroph­e. Der Autor vermag beides: Pointiert über das Leben schreiben und fachkundig in das Denken einzuführe­n; das Leben seiner Protagonis­ten mit ihrem Denken zu verknüpfen; die Protagonis­ten in einer gemeinsame­n Zeit zu verorten und sie in ihren Kontrasten kenntlich zu machen.

„Sollte es eine Überzeugun­g geben, die Wittgenste­in, Heidegger, Benjamin und Cassirer in diesem (und jedem anderen) Stadium ihres Denkens umstandslo­s und unbedingt bejaht hätten, dann war es die folgende: Die menschlich­e Lebensform ist eine des Sprechens. Die Sprache … ist der eigentlich­e Boden unseres jeweiligen Selbst- und Weltverstä­ndnisses.“Fasziniere­nd, wie vielfältig dieses Sprechen sein kann. Wolfgang Schütz Wolfram Eilenberge­r: Zeit der Zauberer Klett Cotta, 400 S., 25 ¤

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Aus dem Englischen von Sigrid Schmid und Renate Weitbrecht, Hanser, 384 S., 26 ¤
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