Wenn ein Mädchen verschwindet
Die Leiche des Mannes liegt im Gras, daneben die Pistole. Sie gehört seiner Frau. Ihre Fingerabdrücke finden sich auf den Patronen wie auf der Waffe. Nachbarn berichten von häufigen und heftigen Streitereien der beiden. Der Mann hat kurz vor seinem Tod eine Lebensversicherung über 800 000 Euro für seine Frau abgeschlossen. Und: Sie hat kein Alibi.
Selten sind Todesfälle von solcher Stringenz. Selten scheint die Schuldfrage so klar auf der Hand zu liegen. Und doch scheint es nur so! Wenn wie in diesem Beispiel alles für den Mord spricht, wähnt man sich dann vielleicht vorschnell auf der richtigen Seite, fallen Alternativen unter den Tisch, werden Annahmen voreilig getätigt, Indizien eindeutig ausgelegt?
Die hier skizzierte Geschichte trägt den bezeichnenden Titel „Die falsche Seite“. Sie ist eine von zwölf Erzählungen, die Ferdinand von Schirach in seinem neuen Buch nun die Glasglocke, unter der sein Held sich bislang verschanzte, und lässt ihn Unerklärliches erleben: Ein Bild wird entdeckt, in einer Erdkammer klingelt’s, ein Idee will gesehen werden… und – Metapher, Metapher – im Künstler wird plötzlich Verschüttetes freigelegt, nämlich Intuition. Als er für ein horrendes Honorar den steinreichen Nachbarn malt, dessen vielsagender Namen übersetzt „Farbe vermeiden“bedeutet, findet der Porträtmaler zum neuen Stil. Welchen Preis er dafür zahlen muss, siehe dann Band zwei, der Mitte April erscheint.
Die Schaffenskrise eines Künstlers steht also im Mittelpunkt dieses Romans, der Kriminalfall, den es zu lösen gilt, steckt aber im Kunstwerk des nun dementen Altmeisters Amada selbst, das der Protagonist auf dem Dachboden findet. „Die Ermordung des Commendatore“– beim Titel ahnt der Opernfan, wohin es läuft: Mozart, Don Giovanni! Und auch: Seinen Mörder wird der Commendatore am Ende mit in die Hölle nehmen. Die Auflösung, so viel deutet Murakami an, wird nach Wien im Jahr 1938 führen, als der junge Amada dort studierte, es zum Attentat auf einen Nazifunktionär kam …
Wäre der Roman ein Bild, es würde ein Leerraum in der Mitte klaffen. An den sich Murakami heranzoomt, durch Öffnungen blickt, den Künstler zeigt, der durch eine Luke im Dachboden steigt, ein Bild findet, auf dem ein Mann durch eine Luke auf ein Verbrechen blickt Alles also noch offen. Auch, ob der Roman sich in seiner Gesamtheit dann rundet. „Ich bin übrigens Linkshänder“, erklärt der ominöse Auftraggeber: „Ich weiß nicht, ob das eine Rolle spielt, aber zumindest ist es eine weitere Information über mich als Person.“Stefanie Wirsching „Strafe“vorlegt (nach den StorySammlungen „Verbrechen“und „Schuld“, nach dem Roman „Der Fall Collini“und dem Theaterstück „Terror“). Der 1964 in München geborene, in Berlin tätige Anwalt und Strafverteidiger schöpft aus der Praxis von Prozessen, aus Gesprächen mit seinen Mandanten, verfremdet aber die Fälle derart, dass der Personenschutz gewahrt bleibt.
Der Autor (Enkel des NSDAPReichjugendführers und Wiener Gauleiters Baldur von Schirach) zieht den Leser in einer zwingenden Folge einfacher, scharf konturierter Sätze hinein in aufrüttelnde, verstörende, irrwitzige Menschenschicksale. Das hat nichts Reißerisches, enthält sich moralischer Urteile und psychologischer Erklärungen. Man wird Zeuge authentischer Verstrickungen. Die Intensität der Lektüre rührt aus den Grenzüberschreitungen zwischen Dokument und Literatur, im Weiteren zwischen Gut und Böse, Schuld und Unschuld, Jon McGregor: Speicher 13 Castle Freeman: Der Klügere lädt nach Aus dem Englischen von Dirk von Gunsteren, Nagel & Kimche, 208 S., 19 ¤ Sie war 13 Jahre alt, hatte dunkelblonde Haare, sie hieß „Rebekka, Becky, oder Bex“. Auf einer Wanderung mit ihren Eltern in den Ferien läuft Rebekka nach einem Streit davon und taucht nicht mehr auf. Hundertschaften durchkämmen die karstige Gebirgslandschaft voller Höhlen und Felsspalten. Jeder ist auf den Beinen. Es gibt kein anderes Thema. Bleierne Schwere legt sich in „Speicher 13“über ein Dorf.
Und doch schleicht sich das Leben zurück: Lämmer müssen geschoren, Kühe gemolken, Dinge erledigt werden. Füchse kommen auf die Welt, die Wacholderdrosseln fliegen in den Süden, von dem Mädchen keine Spur. Ein erstes Fest wird wieder gefeiert, nach einigen Jahren verlässt Rebekkas Mutter das Dorf, die Ferienfreunde von einst beginnen ein Studium, werden erwachsen, Paare trennen sich, Kinder werden geboren, Karrieren beendet. Von Seite zu Seite gibt der britische Autor Jon McGregor dem Leben der Dorfbewohner mit ihren Sorgen, Nöten und Affären mehr Raum und den Lesern Rätsel auf. Ein Pulli wird gefunden, eine Festplatte zerstört, ein Indiz?
Geschickt macht McGregor den Leser zum Beobachter, dazu trägt der klare Erzählton viel bei. Es gibt keinen eindeutigen Fall und keinen ermittelnden Kommissar, McGregor erzählt, wie Menschen mit einer Tragödie umgehen. Mögliche Rückschlüsse überlässt er den Lesern. Spannend! Das Buch war letztes Jahr für den Booker Prize nominiert. Doris Wegner Recht und Rechthaberei. Die geschilderten Begebenheiten muten fremd und fern an, gehen einem aber durch pointierte Einblicke ins Innenleben, ins soziale Umfeld der Betroffenen schließlich so nahe, dass man sich seiner rasch gefassten Meinungen und Bewertungen schämt.
Die Prozess-Dialoge setzen den Leser gleichsam in den Gerichtssaal. Er wird konfrontiert mit völlig überraschenden Wendungen, Ausgängen, Urteilen. Vor seinen Augen verwischen sich sichtbare und erzählte Bilder, tauchen Menschen auf, die mit anderen nicht zurechtkommen, die sich selber nicht mehr begreifen, ja die noch nicht einmal wissen, warum sie so und nicht anders gehandelt haben. Wenn dann noch Sätze fallen wie „Es gab nichts, was noch gültig war“, dann geht man mit sich selbst zu Gericht, bevor man anklagend auf andere zeigt.
Eine Schöffin erkennt sich in einer furchtbar misshandelten Frau wieder. Ein Mann nimmt Rache, weil sein Nachbar seine über alles geliebte Sexpuppe zerstört. An einer Perlenkette fädeln sich folgenreiche Ereignisse auf. Ein Drogendealer kommt dank einer Trunkenheitsfahrt sehr milde davon. Ein Mann, der im Kreißsaal Zeuge der Geburt seines Sohnes wird, gerät völlig aus dem Gleis...
Die Stenogramme der SchirachStories klingen schon seltsam genug. In allen Fällen bleibt ein rätselhafter Rest, das Unausgesprochene, das Lückenhafte. Man fragt sich nach der Lektüre: Ist es überhaupt möglich, den ganzen Menschen zu sehen? Das eine sind die Ermittlungen vor Gericht, das andere ist das, was wirklich passiert ist. Ferdinand von Schirach spricht in diesem Zusammenhang lieber nicht von „Wahrheit“, sondern von „formalisierter Wahrheit“. Und noch eines hat sich dem Anwalt eingeprägt: „Je mehr wir über einen Menschen wissen, umso schwerer fällt es uns, ihn zu verdammen.“Günter Ott Ferdinand von Schirach: Strafe Luchterhand 192 S., 18 ¤