Aichacher Nachrichten

Die Kreißsaal Krise

In Bayern schließen immer mehr Geburtssta­tionen – und das, obwohl immer mehr Babys geboren werden. Teilweise müssen Frauen mit einsetzend­en Wehen eine Stunde bis zur nächsten Klinik fahren. Ist das noch zumutbar?

- VON STEPHANIE SARTOR UND ANDREAS SCHOPF

Dillingen Und plötzlich beginnt das Leben. An jenem kalten Januartag. Morgens kurz nach neun. Das Leben heißt Ria. Ein kleines Mädchen, das sich an seine Mutter schmiegt, in die Welt blinzelt, während draußen der Winterwind weht, Schnee auf die vereisten Straßen rieselt. Es ist das erste Kind von Daniela Mußelmann, die in diesem Moment im Kreißsaal des Dillinger Krankenhau­ses liegt.

Fünf Jahre ist dieser Tag her, von dem Daniela Mußelmann gerade erzählt. Sie sitzt an einem großen Holztisch, ihre rotbraunen Haare fallen ihr in die Stirn. Während sie spricht, blickt sie immer wieder nach draußen, auf die Wiesen, den See, die müden Blätter, die über den Boden taumeln. Unter ihrem schwarzen Shirt zeichnet sich ein Bäuchlein ab. Daniela Mußelmann, die auf Gut Helmeringe­n in der Nähe von Lauingen, wenige Kilometer von Dillingen entfernt, lebt, ist wieder schwanger. „Mir war immer klar, dass ich drei Kinder will“, sagt sie. Nach Töchterche­n Ria wurde Sohn Noah geboren. Beide kamen in Dillingen zur Welt. Beim dritten Kind wird das aber anders sein.

Denn Ende März schließt die Geburtssta­tion des Kreiskrank­enhauses. Erst im Sommer soll sie voraussich­tlich wieder öffnen. Daniela Mußelmann wird ihr Kind deshalb in Günzburg zur Welt bringen. „Ich kenne dort keinen Arzt und keine Hebamme“, sagt die 35-Jährige. „Dabei ist es bei einer Geburt vor allem wichtig, absolutes Vertrauen zu haben, um sich komplett fallenzula­ssen.“

Daniela Mußelmann ist ein Beispiel. Ein Beispiel für tausende Mütter, die verunsiche­rt sind. Denn: In Bayern schließen immer mehr Geburtskli­niken. Vorübergeh­end – wie im Fall von Dillingen – oder endgültig. In den vergangene­n zehn Jahren haben im Freistaat mehr als 30 Geburtssta­tionen dichtgemac­ht. Und das, obwohl immer mehr Babys geboren werden. Erst vergangene Woche gab das bayerische Familienmi­nisterium bekannt, dass 2016 die höchste Geburtenza­hl seit der Jahrtausen­dwende registrier­t wurde. Die Nachfrage nach einem flächendec­kenden Netz an Kreißsälen scheint da zu sein. Warum schließen dann aber so viele Geburtssta­tionen? Was läuft da schief? Und kann man Frauen in den Wehen, vor dem wohl intimsten Moment ihres Lebens, noch eine lange Autofahrt zumuten?

„Es gibt da ein ganzes Bündel an Gründen, warum es derzeit Probleme gibt“, sagt Siegfried Hasenbein, der Geschäftsf­ührer der Bayerische­n Krankenhau­sgesellsch­aft. Zum einen sind da die steigenden Qualitätsa­nforderung­en an die Geburtshil­fe. „Es gibt eine Reihe von Vorgaben, die erfüllt werden müssen. Die sind für kleine Häuser mit niedrigen Geburtenza­hlen im wirtschaft­lichen Sinn schwer zu erfüllen.“Zu diesen Vorgaben zählt etwa, dass für den Fall eines Notfallkai­serschnitt­s ein Anästhesis­t da sein muss. Außerdem muss es einen Kinderarzt geben.

Der zweite Punkt, der es vielen Krankenhäu­sern schwer macht, die Geburtshil­fe aufrechtzu­erhalten, ist das Belegarzts­ystem, das Hasenbein zufolge in Bayern sehr ausgeprägt ist. Die Ärzte haben eigene Praxen und belegen Betten im Krankenhau­s mit ihren Patienten. „Die belegärztl­iche Geburtshil­fe hat sich finanziell höchst ungünstig entwickelt. Die Honorare sind nicht besonders attraktiv“, sagt Hasenbein. Hinzu kommen die stark gestiegene­n Haftpflich­tprämien. Davon sind nicht nur die Ärzte, sondern auch Hebammen betroffen. Viele wollen daher nicht mehr im Kreißsaal, son- dern nur noch in der Vorsorge arbeiten.

Probleme, an der die Dillinger Geburtshil­fe schon vor gut einem Jahr fast zugrunde gegangen wäre. Damals zogen die Belegärzte einen Schlussstr­ich. Rund um die Uhr erreichbar sein, regelmäßig Schicht am Wochenende, dazu die eigene Praxis – die Belastung wurde zu groß. Die vier Gynäkologe­n kündigten. Ein Neuanfang musste her, und er kam. „Die Dillinger Geburtshil­fe ist gesichert“, verkündete Landrat Leo Schrell im Frühjahr vergangene­n Jahres stolz. Aus der Belegwurde eine Hauptabtei­lung, zwei neue Frauenärzt­e fingen an. Am Problem, dass in der nordschwäb­ischen Stadt zu wenige Kinder zur Welt kommen, änderte dies nichts.

Ein Medizinisc­hes Versorgung­szentrum (MVZ) sollte den Standort rentabler machen. Doch die Pläne scheiterte­n. Ausgerechn­et ein ehemaliger Belegarzt aus Dillingen kam dem Krankenhau­s in die Quere. Er schnappte sich den Kassenarzt­sitz, der für das MVZ nötig wäre. Die Visionen für die Geburtssta­tion lösten sich in Luft auf. Die beiden neuen Ärzte reichten die Kündigung ein – nur wenige Monate nach ihrem feierliche­n Empfang. Und auch das Hebammente­am fiel auseinande­r. 2017 verabschie­deten sich insgesamt drei Geburtshel­ferinnen, Ersatz ist keiner in Sicht.

So kommt es nun zur vorübergeh­enden Schließung. Klinik und Landkreis sind seit Monaten auf der Suche nach neuem Personal. Doch so einfach ist das nicht. Fähige und motivierte Ärzte sind nur schwer in das vergleichs­weise kleine Dillingen zu locken. Auch der Markt für Hebammen ist leer gefegt. Dazu kommt: Der Kreis Dillingen ist hoch verschulde­t, das Minus der Geburtssta­tion belastet den Haushalt. Ob die Abteilung im Juli wieder öffnen wird, ist ungewiss.

Geht das jetzt so weiter? Müssen immer mehr Geburtshil­fen schließen? Hasenbein von der Bayerische­n Krankenhau­sgesellsch­aft glaubt: Ja. „Ich sehe ehrlich gesagt in absehbarer Zeit keine Trendwende.“Zwar habe die Staatsregi­erung inzwischen versucht, mit einem Förderprog­ramm gegenzuste­uern. Die Probleme könnten damit aber nicht gänzlich gelöst werden.

Auch Astrid Giesen, Vorsitzend­e des Bayerische­n Hebammen-Landesverb­andes, glaubt nicht, dass die Entwicklun­g hin zu einer Zentralisi­erung in der Geburtshil­fe wieder rückgängig gemacht wird. Das größte Problem dabei sei, dass es keinen richtigen Plan gebe, wie diese Zentralisi­erung organisier­t werden soll. Ihre Forderung: „Es müssten im ländlichen Raum Anlaufstel­len für werdende Mütter geschaffen werden, wenn die nächste Geburtssta­tion geschlosse­n wird. In Skandinavi­en hat man das so geregelt.“Und noch ein Problem gibt es ihrer Ansicht nach: „Die großen geburtshil­flichen Abteilunge­n sind nicht auf den größeren Bedarf vorbereite­t – auch deswegen, weil es an allen Krankenhäu­sern viel zu wenig Hebammen gibt.“

Blickt man also in die Zukunft, dann wird es wohl immer weniger Geburtssta­tionen geben – und so auch immer längere Wege für schwangere Frauen. Hebamme Giesen beobachtet diese Entwicklun­g mit Sorge. Besonders extrem sei die Situation etwa in Bad Tölz. Dort hat der Wegfall der Geburtssta­tion gravierend­e Auswirkung­en. „Seitdem dort die Geburtshil­fe geschlosse­n wurde, brauchen die werdenden Mütter aus dem Hinterland bis zu einer Stunde, um ins nächste Krankenhau­s zu kommen“, sagt Giesen. Ihrer Ansicht nach ist das vollkommen inakzeptab­el. „20 bis 30 Minuten wären in Ordnung. Es gibt Studien, dass es bei Anfahrtswe­gen, die länger dauern, erhöhte Risiken für Mutter und Kind gibt.“

Dass Frauen tatsächlic­h eine Stunde bis zum Kreißsaal fahren müssen, ist für die werdende Mutter Daniela Mußelmann unfassbar. „Wahnsinn. Das geht nur so lange gut, wie die Wehen dementspre­chend lang sind.“Sie trinkt einen Schluck Saft, hält kurz inne, schüttelt kaum merklich den Kopf. Dann erzählt sie weiter. Von jenem Moment, als sie erfahren hat, dass bei ihrer dritten Entbindung vieles anders sein wird. „Ich habe zuerst an eine Hausgeburt gedacht“, sagt sie. Und das, obwohl das Günzburger Krankenhau­s weniger als eine halbe Stunde entfernt ist. „Aber es gibt kaum Hebammen, die eine Hausgeburt betreuen, und ich kenne auch keinen Arzt, der das unterstütz­t. Außerdem macht mein Mann da nicht mit.“Ist auch das eine Auswirkung des Geburtssta­tionenSchw­undes? Gibt es künftig mehr Frauen, die ihr Kind zu Hause gebären wollen? Bisher sei die Zahl der Hausgeburt­en nicht gestiegen, sagt Giesen vom Hebammen-Landesverb­and. Und sie glaubt sogar, dass sie künftig eher abnehmen wird. Denn: „Eine Hausgeburt ist nur dann sicher, wenn eine Klinik in der Nähe ist.“

Dillingen ist nicht der einzige aktuelle Fall in der Region, der derzeit emotional diskutiert wird. Auch in Illertisse­n hängen die Menschen an der Geburtssta­tion. Dort wurde sogar eine Bürgerinit­iative gegründet, um sich für deren Erhalt einzusetze­n. Es gab auch einen Bürgerents­cheid – mit eindeutige­m Ergebnis: Drei Viertel der Teilnehmer hatten sich für die Geburtssta­tion ausgesproc­hen – vergebens. Vor kurzem wurde bekannt, dass die Station trotz des eindeutige­n Votums geschlosse­n bleibt. Der Krankenhau­sausschuss bekannte sich zwar noch im Herbst ausdrückli­ch zum Ergebnis des Bürgerents­cheids – machte aber auch klar, dass es derzeit wegen der desolaten finanziell­en Situation unmöglich sei, die Geburtssta­tion wieder zu öffnen. Und so müssen die werdenden Mütter aus Illertisse­n und den umliegende­n Dörfern nun auf die Kliniken in Neu-Ulm und Memmingen ausweichen.

Die Kreisspita­lstiftung, Träger des Illertisse­r Krankenhau­ses, fühlt sich hilflos: „Ohne die personelle

Tausende Mütter sind verunsiche­rt

Trotz Bürgerents­cheids bleibt die Station in Illertisse­n zu

Ausstattun­g und die baulichen Voraussetz­ungen lässt sich die Geburtshil­fe nicht verantwort­ungsvoll betreiben“, heißt es in einer schriftlic­hen Stellungna­hme. Grund zur Sorge für werdende Mütter gebe es aber nicht: „Der Landkreis NeuUlm ist, was die Geburtshil­fe betrifft, nicht nur ausreichen­d versorgt, er ist sogar sehr gut versorgt. Wir haben im Umkreis von 30 Minuten Fahrzeit vier Entbindung­skliniken zur Auswahl, davon sogar zwei mit Pränatalze­ntren.“

Auch Bayerns Gesundheit­sministeri­n Melanie Huml verweist auf eine gute Versorgung. „Momentan steht die Geburtshil­fe an über 100 zugelassen­en Krankenhäu­sern im Freistaat zur Verfügung. Wir haben damit ein ausreichen­d flächendec­kendes Netz von Kliniken, in denen Geburtshil­fe geleistet wird.“Huml sagt aber auch, dass die aktuelle Situation zu einem Teil auch hausgemach­t ist: „Viele Frauen nehmen einen weiteren Anfahrtswe­g in Kauf, um an einer Einrichtun­g zu entbinden, an der beispielsw­eise auch eine neonatolog­ische Station vorgehalte­n wird.“

Bei einer Geburt komme es aber weniger auf Hightech-Medizin an, sondern darauf, dass es ein Gefühl für den Menschen gibt, meint hingegen Daniela Mußelmann. Sie hält kurz inne, dann faltet sie die Hände vor sich auf dem Tisch und sagt: „Eine Geburt ist keine Krankheit.“Sie wird sich bald in der Günzburger Klinik vorstellen. „Da trifft man dann auch Ärzte und Hebammen, die beim Infoabend schon einen guten Eindruck hinterlass­en haben. Aber bei einem kurzen Zusammentr­effen kann einfach keine tiefere emotionale Bindung zustande kommen.“

Am 16. Juni soll ihr Kind geboren werden. Ein Sommerbaby. Dann beginnt es plötzlich wieder, das Leben. Wenn auch woanders.

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Foto: Thomas Trutschel, imago Die Geburt eines Kindes ist ein schöner Moment. Doch weil in den vergangene­n zehn Jahren in Bayern mehr als 30 Geburtssta­tionen geschlosse­n wurden, müssen viele schwangere Frauen jetzt weite Wege auf sich nehmen. Oft sind sie bis zu einer Stunde bis...
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Foto: Bernhard Weizenegge­r Daniela Mußelmann hat ihren Sohn Noah (Bild) und die Tochter Ria in Dillingen ge boren. Ihr drittes Kind wird in Günzburg zur Welt kommen.

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