Revolutionär ohne Bart, geht das?
Der Literaturkritiker Uwe Wittstock liest im Brechthaus aus seinem Buch über Karl Marx. Er fragt sich, warum der Vordenker des Kommunismus ein Jahr vor seinem Tod zum Barbier ging
Herr Wittstock, Sie sind Literaturkritiker und haben Bücher über die Postmoderne in der Literatur, über Maxim Biller und seinen Roman „Esra“sowie Marcel Reich-Ranicki geschrieben. Jetzt haben Sie sich das Leben und das Werk von Karl Marx vorgenommen. Ist Marx für Sie ebenfalls Literatur? Uwe Wittstock: Marx ist auf jeden Fall ein großer Autor. Das Kommunistische Manifest beweist, dass er eine fabelhafte politische Prosa zu schreiben vermochte. Marx konnte, wenn er in der richtigen Verfassung war, brillant formulieren. Leider hat er das viel zu selten getan, er hat zumeist einen sehr akademischen Stil gepflegt.
In Ihrem Buch „Karl Marx beim Barbier“weisen Sie daraufhin, dass er anfangs auch Gedichte geschrieben hat. Wittstock: In seinen jungen Jahren war Marx zunächst Lyriker. Er orientierte sich an den Romantikern. Als Student hat er sehr, sehr viele Liebesgedichte geschrieben, von denen die meisten grauenvoll schlecht sind. Aber es lohnt sich einige andere, in denen nicht von Liebe die Rede ist, sehr genau zu lesen. Sie verraten manches über Marx.
Wie sind Sie jetzt zu Marx gekommen? Gab es ein Schlüsselerlebnis für Sie?
Wittstock: Ich habe in den 1970er Jahren in Köln studiert, da war Marx allgegenwärtig. Ich habe meinen Kommilitonen damals immer Einschränkendes und Warnendes zu Marx’ Theorien sagen wollen, aber die Fanatisierten unter ihnen haben sich nie auf ein Gespräch eingelassen. Da war mein Bedürfnis groß, das alles einmal aufzuschreiben, vor allem auch zu Marx’ Bart, der in meinem Buch eine wichtige Rolle spielt, sonst aber viel zu wenig beachtet wird.
In Ihrem Buch erzählen Sie auf der einen Seite die Biografie, daneben gibt es eine Rahmenhandlung, in der Sie beschreiben, wie Karl Marx ein Jahr vor seinem Tod in Algiers zum Barbier geht. Was hat Sie an dieser Szene fasziniert?
Wittstock: Es gibt einen Brief, in dem Marx an Engels schreibt, dass er sich in Algiers hat rasieren lassen. Das hat mich nachdenklich gemacht. Fast alle Revolutionäre haben einen langen Bart getragen – von Marx und Engels bis hin zu Lenin und Fidel Castro. Wenn man bedenkt, dass jemand, der 62 Jahre alt ist und seit seiner Studentenzeit einen Vollbart getragen hat, sich plötzlich rasieren lässt und selbst sagt, er habe seinen „Prophetenbart wegräumen“lassen, dann werde ich als Literaturkritiker hellhörig.
Bricht Karl Marx für Sie in diesem Moment mit sich selbst?
Wittstock: Ein Mensch ist ja ein vielschichtiges Wesen. Ich glaube, dass Marx auf einer bestimmten, vielleicht unbewussten Ebene auf diese Weise von seiner intellektuellen Existenz als Revolutionär Abschied genommen hat. Das versuche ich in meinem Buch zu belegen. Wie nah oder fern war Ihnen beim Schreiben die marxistische Theorie? Ist sie für die Gegenwart noch von Bedeutung?
Wittstock: Die Auseinandersetzung mit der historischen Figur Marx war und ist für mich virulent. Aber ich halte es für absurd zu glauben, man könnte eine Wirtschaftstheorie, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, Anfang des 21. Jahrhunderts noch problemlos verwenden. Diese Bereitschaft, Marx auch in einem zeitlichen Abstand von 150 Jahren blind zu folgen, ist ein wesentlicher Kritikpunkt an der marxistischen Orthodoxie. Schon Marx selbst zeigte mit seiner politischen Praxis, dass er seine Thesen permanent revidierte und fortentwickelte. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat er Revolutionstheorien entworfen, doch spätestens ab 1870 haben die gewerkschaftlichen Bewegungen in seinen politischen Arbeiten immer größeren Raum eingenommen. Und letztlich wollen Gewerkschaften ja keine Revolution, die den Kapitalismus beseitigt, sondern für die Arbeitnehmer einen größeren Anteil an dem Wohlstand, der vom Kapitalismus erwirtschaftet wird. Jetzt kommen Sie am heutigen Donnerstag mit Ihrem Marx-Buch in das Brechthaus nach Augsburg. Haben Sie das Gefühl, dass sich da etwas zusammenfügt?
Wittstock: Unbedingt. Zum einen hatte Marx zur Augsburger Allgemeinen eine intensive Beziehung. Er hat sie gern kritisiert als bürgerliche Zeitung und so manche polemische Debatte vom Zaun gebrochen. Einen engen Bezug zu Augsburg gibt es schon deshalb.
Und wie sieht es zum anderen mit dem Verhältnis von Bertolt Brecht zu Karl Marx aus?
Wittstock: Brecht hat sich in den entsetzlichen Konflikten zwischen Kommunismus und Faschismus im 20. Jahrhundert zum Marxismus bekannt und einen Teil seiner intellektuellen Unabhängigkeit aufgegeben. Das ist aus der Zeit heraus, in der er lebte, zu verstehen. Doch einige der Stücke, die er in dieser Phase seines Lebens geschrieben hat, sind vergleichsweise schwach. Ich finde, er war ein großartiger Lyriker, aber mit manchen seiner Lehrstücke oder mit dem „Guten Menschen von Sezuan“sollte man heute keine Schüler mehr quälen. Noch ein Wort zur aktuellen BrechtPreisträgerin Nino Haratischwili, die Sie als Jury-Mitglied mitausgewählt haben.
Wittstock: In ihrem Roman „Das achte Leben“erzählt Haratischwili die Geschichte Osteuropas als Familiengeschichte. Sie macht die blutige Vergangenheit des Ostens für Leser im Westen begreifbar und nachempfindbar. In diesem Wunsch, Politik zum Thema der Literatur zu machen, sehe ich auch einen Anknüpfungspunkt an die Ästhetik Brechts. ⓘ
Lesung Am heutigen Donnerstag, 15. März, liest der Autor und Literaturkriti ker Uwe Wittstock um 19 Uhr im Augsbur ger Brechthaus aus seinem Buch „Karl Marx beim Barbier“(Blessing Verlag, 288 S., 20 Euro). Reservierungen sind un ter der Nummer 0821/4540815 (Regio Augsburg) möglich.