Aichacher Nachrichten

Revolution­är ohne Bart, geht das?

Der Literaturk­ritiker Uwe Wittstock liest im Brechthaus aus seinem Buch über Karl Marx. Er fragt sich, warum der Vordenker des Kommunismu­s ein Jahr vor seinem Tod zum Barbier ging

- Interview: Richard Mayr

Herr Wittstock, Sie sind Literaturk­ritiker und haben Bücher über die Postmodern­e in der Literatur, über Maxim Biller und seinen Roman „Esra“sowie Marcel Reich-Ranicki geschriebe­n. Jetzt haben Sie sich das Leben und das Werk von Karl Marx vorgenomme­n. Ist Marx für Sie ebenfalls Literatur? Uwe Wittstock: Marx ist auf jeden Fall ein großer Autor. Das Kommunisti­sche Manifest beweist, dass er eine fabelhafte politische Prosa zu schreiben vermochte. Marx konnte, wenn er in der richtigen Verfassung war, brillant formuliere­n. Leider hat er das viel zu selten getan, er hat zumeist einen sehr akademisch­en Stil gepflegt.

In Ihrem Buch „Karl Marx beim Barbier“weisen Sie daraufhin, dass er anfangs auch Gedichte geschriebe­n hat. Wittstock: In seinen jungen Jahren war Marx zunächst Lyriker. Er orientiert­e sich an den Romantiker­n. Als Student hat er sehr, sehr viele Liebesgedi­chte geschriebe­n, von denen die meisten grauenvoll schlecht sind. Aber es lohnt sich einige andere, in denen nicht von Liebe die Rede ist, sehr genau zu lesen. Sie verraten manches über Marx.

Wie sind Sie jetzt zu Marx gekommen? Gab es ein Schlüssele­rlebnis für Sie?

Wittstock: Ich habe in den 1970er Jahren in Köln studiert, da war Marx allgegenwä­rtig. Ich habe meinen Kommiliton­en damals immer Einschränk­endes und Warnendes zu Marx’ Theorien sagen wollen, aber die Fanatisier­ten unter ihnen haben sich nie auf ein Gespräch eingelasse­n. Da war mein Bedürfnis groß, das alles einmal aufzuschre­iben, vor allem auch zu Marx’ Bart, der in meinem Buch eine wichtige Rolle spielt, sonst aber viel zu wenig beachtet wird.

In Ihrem Buch erzählen Sie auf der einen Seite die Biografie, daneben gibt es eine Rahmenhand­lung, in der Sie beschreibe­n, wie Karl Marx ein Jahr vor seinem Tod in Algiers zum Barbier geht. Was hat Sie an dieser Szene fasziniert?

Wittstock: Es gibt einen Brief, in dem Marx an Engels schreibt, dass er sich in Algiers hat rasieren lassen. Das hat mich nachdenkli­ch gemacht. Fast alle Revolution­äre haben einen langen Bart getragen – von Marx und Engels bis hin zu Lenin und Fidel Castro. Wenn man bedenkt, dass jemand, der 62 Jahre alt ist und seit seiner Studentenz­eit einen Vollbart getragen hat, sich plötzlich rasieren lässt und selbst sagt, er habe seinen „Prophetenb­art wegräumen“lassen, dann werde ich als Literaturk­ritiker hellhörig.

Bricht Karl Marx für Sie in diesem Moment mit sich selbst?

Wittstock: Ein Mensch ist ja ein vielschich­tiges Wesen. Ich glaube, dass Marx auf einer bestimmten, vielleicht unbewusste­n Ebene auf diese Weise von seiner intellektu­ellen Existenz als Revolution­är Abschied genommen hat. Das versuche ich in meinem Buch zu belegen. Wie nah oder fern war Ihnen beim Schreiben die marxistisc­he Theorie? Ist sie für die Gegenwart noch von Bedeutung?

Wittstock: Die Auseinande­rsetzung mit der historisch­en Figur Marx war und ist für mich virulent. Aber ich halte es für absurd zu glauben, man könnte eine Wirtschaft­stheorie, die in der Mitte des 19. Jahrhunder­ts entwickelt wurde, Anfang des 21. Jahrhunder­ts noch problemlos verwenden. Diese Bereitscha­ft, Marx auch in einem zeitlichen Abstand von 150 Jahren blind zu folgen, ist ein wesentlich­er Kritikpunk­t an der marxistisc­hen Orthodoxie. Schon Marx selbst zeigte mit seiner politische­n Praxis, dass er seine Thesen permanent revidierte und fortentwic­kelte. Um die Mitte des 19. Jahrhunder­ts hat er Revolution­stheorien entworfen, doch spätestens ab 1870 haben die gewerkscha­ftlichen Bewegungen in seinen politische­n Arbeiten immer größeren Raum eingenomme­n. Und letztlich wollen Gewerkscha­ften ja keine Revolution, die den Kapitalism­us beseitigt, sondern für die Arbeitnehm­er einen größeren Anteil an dem Wohlstand, der vom Kapitalism­us erwirtscha­ftet wird. Jetzt kommen Sie am heutigen Donnerstag mit Ihrem Marx-Buch in das Brechthaus nach Augsburg. Haben Sie das Gefühl, dass sich da etwas zusammenfü­gt?

Wittstock: Unbedingt. Zum einen hatte Marx zur Augsburger Allgemeine­n eine intensive Beziehung. Er hat sie gern kritisiert als bürgerlich­e Zeitung und so manche polemische Debatte vom Zaun gebrochen. Einen engen Bezug zu Augsburg gibt es schon deshalb.

Und wie sieht es zum anderen mit dem Verhältnis von Bertolt Brecht zu Karl Marx aus?

Wittstock: Brecht hat sich in den entsetzlic­hen Konflikten zwischen Kommunismu­s und Faschismus im 20. Jahrhunder­t zum Marxismus bekannt und einen Teil seiner intellektu­ellen Unabhängig­keit aufgegeben. Das ist aus der Zeit heraus, in der er lebte, zu verstehen. Doch einige der Stücke, die er in dieser Phase seines Lebens geschriebe­n hat, sind vergleichs­weise schwach. Ich finde, er war ein großartige­r Lyriker, aber mit manchen seiner Lehrstücke oder mit dem „Guten Menschen von Sezuan“sollte man heute keine Schüler mehr quälen. Noch ein Wort zur aktuellen BrechtPrei­strägerin Nino Haratischw­ili, die Sie als Jury-Mitglied mitausgewä­hlt haben.

Wittstock: In ihrem Roman „Das achte Leben“erzählt Haratischw­ili die Geschichte Osteuropas als Familienge­schichte. Sie macht die blutige Vergangenh­eit des Ostens für Leser im Westen begreifbar und nachempfin­dbar. In diesem Wunsch, Politik zum Thema der Literatur zu machen, sehe ich auch einen Anknüpfung­spunkt an die Ästhetik Brechts. ⓘ

Lesung Am heutigen Donnerstag, 15. März, liest der Autor und Literaturk­riti ker Uwe Wittstock um 19 Uhr im Augsbur ger Brechthaus aus seinem Buch „Karl Marx beim Barbier“(Blessing Verlag, 288 S., 20 Euro). Reservieru­ngen sind un ter der Nummer 0821/4540815 (Regio Augsburg) möglich.

 ?? Foto: Wittstock ?? In den 1970er Jahren, als Uwe Wittstock studierte, konnte er Karl Marx an der Universitä­t Köln nicht aus dem Weg gehen. Jetzt hat der Literaturk­ritiker dem großen Revolution­är ein Buch gewidmet.
Foto: Wittstock In den 1970er Jahren, als Uwe Wittstock studierte, konnte er Karl Marx an der Universitä­t Köln nicht aus dem Weg gehen. Jetzt hat der Literaturk­ritiker dem großen Revolution­är ein Buch gewidmet.

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