Aichacher Nachrichten

Sie wollte überleben

Wie eine junge Frau den Nazis entging

- VON STEFANIE SCHOENE

Mit 75 Jahren begann die Mutter von Hermann Simon zu sprechen über die dramatisch­e Zeit zwischen 1940 und 1945, und wie sie als Jüdin in Berlin überlebte. Weihnachte­n 1996 baute er einen Kassettenr­ekorder vor ihr auf und sagte: „Fang von vorne an.“Warum der Historiker und langjährig­e Leiter des Berliner Centrum Judaicum erst so spät mit der Dokumentat­ion der Lebensgesc­hichte seiner Mutter begann, kann er nicht erklären. Auf Einladung des jüdischen Kulturmuse­ums, der Gesellscha­ft für christlich-jüdische Zusammenar­beit, der Deutsch-Israelisch­en Gesellscha­ft und des Forum Annahof stellte Simon im voll besetzten Festsaal der Synagoge sein Buch „Untergetau­cht“vor, die Autobiogra­fie, die er nach den Berichten seiner Mutter erstellte.

Auf 77 Kassetten schilderte Marie Jalowicz Simon (1922–1998) ihr Leben im Untergrund. Er recherchie­rte fast alle Namen und Orte, die seine Mutter erwähnte. „Ich wusste damals grob, was ihr passiert war, hatte jedoch keine Ahnung, vor allem nicht von den ambivalent­en Unterstütz­ern, wie sie viele ihrer Lebensrett­er nannte“, berichtet Simon. Mehrfach unterbrich­t Simon die Lesung, um in den Aufnahmen seine Mutter zu Wort kommen zu lassen. Klar, differenzi­ert, manchmal mit brüchiger Stimme, erzählt sie von Ruth und Nora, ihren Freundinne­n, mit denen sie ab 1940 bei Siemens Zwangsarbe­it leistete. Von der erschütter­nden Geburtstag­sparty bei Nora, die mit ihren Eltern in der großbürger­lichen Wohnung eingezwäng­t lebt, weil die Wohnung ein „Judenhaus“geworden war, in allen Zimmern waren jüdische Familien zwangsunte­rgebracht. Ab 1941 beobachtet­e sie die Deportatio­nen in ihrem Umfeld.

Die Mutter berichtet, wie es im Juni 1942 morgens klingelt. Marie Jalowicz überlistet die Gestapo, rennt auf die Straße, ein Arbeiter bringt sie zu Freunden. Der erste Helfer. Sie kam bei einem Kapitän am Wannsee unter, zu dessen Identität Simon – wie er erklärt – jetzt eine heiße Spur bekommen habe. Beim Fälscher Köbner geriet sie fast in die Fänge der Gestapo. Die Nachbarin zieht sie aus dem Treppenhau­s in ihre Diele und rettet sie. Die Köbners waren an diesem Tag verhaftet worden. Sie lebte bei einer Artistin, einer Prostituie­rten und der „Roten Trude“, einer Kommunisti­n, die beim Verkauf von „Judenmöbel­n“eine Garderobe erstand. Ob Marie das schlimm fände, fragte sie. Wenn sie sie nicht gekauft hätte, hätte es jemand anders getan. Marie war tief getroffen. Sie geriet an gewalttäti­ge Männer, auch Vergewalti­gungen durch „Helfer“blieben ihr nicht erspart. Über 100 Menschen halfen ihr beim Überleben, 19 Verstecke lernte sie bei ihrer Odyssee durch Berlin kennen.

Marie Jalowicz Simon: Unterge taucht,

 ??  ?? S. Fischer, 416 S., 10,99 Euro
S. Fischer, 416 S., 10,99 Euro
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany