Sie wollte überleben
Wie eine junge Frau den Nazis entging
Mit 75 Jahren begann die Mutter von Hermann Simon zu sprechen über die dramatische Zeit zwischen 1940 und 1945, und wie sie als Jüdin in Berlin überlebte. Weihnachten 1996 baute er einen Kassettenrekorder vor ihr auf und sagte: „Fang von vorne an.“Warum der Historiker und langjährige Leiter des Berliner Centrum Judaicum erst so spät mit der Dokumentation der Lebensgeschichte seiner Mutter begann, kann er nicht erklären. Auf Einladung des jüdischen Kulturmuseums, der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und des Forum Annahof stellte Simon im voll besetzten Festsaal der Synagoge sein Buch „Untergetaucht“vor, die Autobiografie, die er nach den Berichten seiner Mutter erstellte.
Auf 77 Kassetten schilderte Marie Jalowicz Simon (1922–1998) ihr Leben im Untergrund. Er recherchierte fast alle Namen und Orte, die seine Mutter erwähnte. „Ich wusste damals grob, was ihr passiert war, hatte jedoch keine Ahnung, vor allem nicht von den ambivalenten Unterstützern, wie sie viele ihrer Lebensretter nannte“, berichtet Simon. Mehrfach unterbricht Simon die Lesung, um in den Aufnahmen seine Mutter zu Wort kommen zu lassen. Klar, differenziert, manchmal mit brüchiger Stimme, erzählt sie von Ruth und Nora, ihren Freundinnen, mit denen sie ab 1940 bei Siemens Zwangsarbeit leistete. Von der erschütternden Geburtstagsparty bei Nora, die mit ihren Eltern in der großbürgerlichen Wohnung eingezwängt lebt, weil die Wohnung ein „Judenhaus“geworden war, in allen Zimmern waren jüdische Familien zwangsuntergebracht. Ab 1941 beobachtete sie die Deportationen in ihrem Umfeld.
Die Mutter berichtet, wie es im Juni 1942 morgens klingelt. Marie Jalowicz überlistet die Gestapo, rennt auf die Straße, ein Arbeiter bringt sie zu Freunden. Der erste Helfer. Sie kam bei einem Kapitän am Wannsee unter, zu dessen Identität Simon – wie er erklärt – jetzt eine heiße Spur bekommen habe. Beim Fälscher Köbner geriet sie fast in die Fänge der Gestapo. Die Nachbarin zieht sie aus dem Treppenhaus in ihre Diele und rettet sie. Die Köbners waren an diesem Tag verhaftet worden. Sie lebte bei einer Artistin, einer Prostituierten und der „Roten Trude“, einer Kommunistin, die beim Verkauf von „Judenmöbeln“eine Garderobe erstand. Ob Marie das schlimm fände, fragte sie. Wenn sie sie nicht gekauft hätte, hätte es jemand anders getan. Marie war tief getroffen. Sie geriet an gewalttätige Männer, auch Vergewaltigungen durch „Helfer“blieben ihr nicht erspart. Über 100 Menschen halfen ihr beim Überleben, 19 Verstecke lernte sie bei ihrer Odyssee durch Berlin kennen.
Marie Jalowicz Simon: Unterge taucht,