Eine katastrophale Familienkonstellation
Das Oberstufentheater des Aichacher Deutschherren-Gymnasiums zeigt große Gefühle. In der antiken Tragödie „Elektra“werden die Helden in einen Sumpf von Hass, Rache und Schuld hineingezogen
Aichach Die künstlerische Freiheit liegt in der Textfassung von Therese Sperling. Die Autorin hat in ihrer Version der „Elektra“den antiken Stoff der tragischen Familienkonstellation des mykenischen Königs Agamemnon, seiner Frau Klytämnestra, den Kindern Orest, Iphigenie, Elektra und Chrysothemis extrem komprimiert und abgewandelt. Im Fokus steht die Konfrontation zwischen der mordenden Mutter und der rachsüchtigen Tochter, die am Ende selbst zur Mörderin wird. Die Aufteilung auf fünf „Elektren“kommt den Spielerinnen der Q11 und Q12 des Aichacher Deutschherren-Gymnasiums entgegen. Chorisch, mimisch, tanzend und rezitierend nähern sie sich ihrer tragischen Protagonistin, die zuletzt an ihrer eigenen Tat zerbricht.
Die Bühne beim Oberstufentheater ist kahl und abweisend, die zwölf Mimen sind auf sich gestellt. Die fünf Elektren (Salome Higl, Lea Aidelsburger, Sarah Gold, Rachel Weiske, Jennifer Brindl) kreisen um ein Thema: Rache nehmen an Mutter Klytämnestra (Lioba Dietrich), die den Vater erschlagen hat und nun mit Liebhaber Ägisth regiert. Elektra verstrickt sich immer tiefer in den mörderischen Plan, die Mutter samt Liebhaber umzubringen. Vergeblich wartet sie auf ihren Bruder Orest, der die Tat ausführen soll. Weil dieser ums Leben kommt, beschließt sie, es selbst zu tun.
Ihre kleine Schwester Chrysothemis (Helena Kirr) ist traumatisiert und verweigert jede Mithilfe. Sie beugt sich der herzlosen Mutter. Ihre betrogene Kindheit versinnbildlichen Kuscheltiere, die ähnlich malträtiert werden wie ihre Gefühle. Mal reißt sie der Puppe Kopf und Beine ab, mal ertränkt sie sie, mal drückt sie sie ans Herz und flüstert: „Wie Stein ist alles in mir“. Helena Kirr gelingt es mit heller, kindlich schriller Stimme, diese Zerrissenheit nachvollziehen zu können.
Ein Herz aus Stein oder, wie es sich anfühlt, wenn Rachegefühle das eigentliche Lebenselixier sind, das weiß am besten Elektra. Sie musste miterleben, wie ihr Vater ermordet wurde, ihre Mutter beschimpft sie als „Scheusal“und wünscht ihr den Tod, der Liebhaber schlägt sie. Sie und die Schwester werden gedemütigt, wie Tiere behandelt und sie essen mit den Hunden aus einem Napf. Kein Wunder, dass sie selbst zum Tier werden. Wie ein Wolfsrudel streifen die fünf Darstellerinnen über die Bühne, knurren, wenn sich die Mutter nähert, stürzen sich gierig auf Essensbrocken und am Ende auf Klytämnestra und reißen sie in Stücke. Bis zur Eskalation werden Gefühle schaurigsten Ausmaßes an die Oberfläche gespült. Elektra eins bis fünf lösen sich ab in ihrem blindwütigen Hass, ihrer obsessiven Rache, ihrer grenzenlosen Trauer, ihrem völligen Realitätsverlust. Thomas Steinhart, als der Weise und der Wahnsinn, steht ihnen in dieser Doppelfunktion mal beschwichtigend, mal beratend zur Seite. Ein szenischer Gewinn, da er bewusst unaufdringlich agiert.
Elektras geballte Gefühlsladung prallt zunächst an Klytämnestra ab. Lioba Dietrich kommt in schwarzen Stiefeln und Sonnenbrille daher. Sie ist hochnäsig, unnahbar, herzlos. Doch tief drinnen ist sie eine ähnlich gebrochen wie die Tochter. Immerhin: Agamemnon hat ihren ersten Mann umgebracht, ihre Tochter Iphigenie geopfert, Sohn Orest lebt in der Verbannung. Sie ahnt, dass sie durch Elektras Hand sterben wird: „Du, mein Kind, wirst immer sein wie ich“. Ihre Weissagung bestätigt sich grotesk: Als Elektra die Kleider der toten Mutter anzieht, erkennt sie, dass sie genauso schuldig ist wie diese: „Die Erde dröhnt dumpf, wir sind Götter, wir haben es geschafft“. Elektra hat exakt die gleiche Stimmhöhe wie die Mutter.
Insgesamt gut gemeistert haben die Spieler unter der Leitung von Silke Frauenholz-Funk eine anspruchsvolle Thematik, der sie sich konzentriert und mit Einfühlsamkeit näherten. Ausgesuchte, dezent eingesetzte Klaviermusik unterlegt die düsteren Szenen und steigert die Dramatik. Den einzigen Lacher erzeugt groteskerweise das Eingangsopfer, König Agamemnon (Johann Köberlein): Bevor Klytämnestra und Ägisth (Martin Wagner) mit dem Beil anrücken, badet er putzmunter mit Flossen und Krone in der blitzblanken Zinkbadewanne.