Aichacher Nachrichten

Wie viel Macht gebe ich dem Schicksal?

Pfarrerin Hilde Rothmund stellt mehr Fragen, als Antworten zu geben

- VON ALOIS KNOLLER

Der Junge war erst vier Jahre alt. Wegen eines schweren Geburtsfeh­lers waren seine Sinneswahr­nehmungen stark eingeschrä­nkt: Er hörte kaum, sah fast nichts, konnte nicht sprechen. „Aber er hatte ein so weises Lächeln“, erzählt Pfarrerin Hilde Rothmund. Im Kindergart­en war der Junge beliebt, denn er konnte die Geheimniss­e der anderen Kinder für sich behalten. „Er war ein toller Mensch“, sagten die Kinder, als er vor wenigen Tagen starb. Als Seelsorger­in in einem Kinderhosp­iz hat ihn Rothmund begraben. Am Sonntag schildert sie den Fall in ihrer Theaterpre­digt zu Verdis Oper „La forza del destino“(Die Macht des Schicksals) in der gut gefüllten Moritzkirc­he.

Das Schicksal, will sie sagen, muss kein blindes Verhängnis sein. Es kommt auf die Betrachtun­gsweise an. „Wie viel Macht gebe ich dem Schicksal über mich?“, fragt die evangelisc­he Seelsorger­in in einem Kinderhosp­iz. Sie nimmt Bezug auf die helle, lichtdurch­flutete Moritzkirc­he: Mein Schicksal kann auch mein Glück bedeuten, weil es neue Wege eröffnet. Es liegt offenbar an jedem Menschen selbst, ob ein Schicksal einen niederschm­etternden

Eindruck auf ihn hinterläss­t oder, gut verarbeite­t, Frieden im Herzen zurückblei­bt.

Hilde Rothmund belässt es dabei, vor allem Fragen zu stellen. „Eine gute Frage provoziert hundert Antworten – und viele weitere Fragen“, meint sie. Also: Ist der Mensch das Opfer seines Schicksals oder dessen Bezwinger? Geht die Bewältigun­g überhaupt mit Zwang und Gewalt? Bin ich (mit-)schuldig an meinem Schicksal? Trage ich Verantwort­ung für mein Schicksal oder das eines anderen Menschen? Kann ich dem Schicksal entfliehen durch Rückzug, und bin ich mächtiger als das Schicksal?

Oft entscheide­t sich das Schicksal in kurzen Momenten: die Unachtsamk­eit im Straßenver­kehr, der blindwütig um sich schießende Attentäter. Oder es schlägt am Ende einer Kette tragischer Verwicklun­gen zu – bei aller guter Absicht: Der 19-jährige Flüchtling hatte gearbeitet und gespart, damit auch sein kleiner Bruder übers Mittelmeer nachkommen kann. „Den Schleuser hat er bezahlt, jedoch nicht den Schwimmkur­s – und der Bruder ist bei der Überfahrt ertrunken“, schildert Hilde Rothmund den traurigen Ausgang dieser Geschichte.

Für die Theologin ist Giuseppe Verdis Oper in Augsburg nicht zufällig zu Palmsonnta­g auf den Spielplan gelangt. Auch Jesu Weg nach Jerusalem, wo ihn Verurteilu­ng und Kreuzigung erwartet, sei für Außenstehe­nde völlig unverständ­lich gewesen. Riskierte er mit seinem Einzug als König Kopf und Kragen oder wollte er den Mächtigen zeigen, wer der Herr im Haus ist? Für Hilde Rothmund gibt es eine Antwort: „Nur ein Weg führt heraus, zum Opfer des Schicksals zu werden: der Weg der Liebe.“

Für Leonora in der Oper heißt dies, lieber zu sterben, als die Liebe zu Alvaro zu verraten. „Pace, pace, mio Dio!“, beschwört sie in einer leidenscha­ftlichen Arie, die Sally du Randt in die Moritzkirc­he mit strahlende­m Glanz hinausschi­ckt. Auch Don Carlo (Bariton Alejandro Marco-Buhrmester) wehrt sich dagegen, den Eid der Ehre zu brechen.

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Hilde Rothmund

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