Aichacher Nachrichten

Der Traum bleibt

Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King erschossen. Der Mann, der den unterdrück­ten Schwarzen eine Stimme gegeben hat. Die Rassentren­nung in den USA ist längst Geschichte. Und doch ist die Mission des Bürgerrech­tlers aktueller denn je

- VON THOMAS SPANG

Memphis Rhonda Bellamy Hodge hat einen langen Weg hinter sich. Zusammen mit ihren Kommiliton­en hat sich die 28-jährige Geschichts­studentin auf die Reise durch die US-Südstaaten gemacht, immer auf den Spuren von Martin Luther King. Sie war in Atlanta, dem Geburtsort des schwarzen Bürgerrech­tlers, in Montgomery, von wo aus der Baptistenp­rediger den Aufstand gegen die Rassentren­nung anführte, in Birmingham und Selma. Jetzt ist sie in Memphis angekommen. „Die letzten Meter sind die schwersten“, sagt sie.

1968 kam Martin Luther King in die Stadt am Mississipp­i, um den Streik der schwarzen Müllmänner zu unterstütz­en. Vorausgega­ngen war ein furchtbare­r Unfall, bei dem zwei Arbeiter in einem Müllwagen erdrückt worden waren. Es folgten Streiks, die Männer verlangten mehr Sicherheit, höhere Löhne und vor allem mehr Respekt.

Nun steht Rhonda Bellamy Hodge in der Ausstellun­g, starrt gebannt auf die Aufnahmen, die der Projektor auf einen verbeulten Müllwagen wirft. Sie liest die Schlagzeil­en, die Kings Rede für den 3. April 1968 ankündigen. „Es ist ein Verbrechen, dass Menschen in diesem reichen Land leben und Hungerlöhn­e erhalten“, kritisiert­e King an diesem Abend. Es sollte seine letzte Rede sein. Einen Tag später war er tot.

Heute meint man, Vorahnunge­n zu hören. „Schwierige Tage liegen vor uns“, rief King an jenem Tag den Müllarbeit­ern in Memphis zu. Und dass ihm das keine Sorge bereite. „Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch.“Dann sagte er noch: „Ich fürchte niemanden.“

Wie immer, wenn King in Memphis war, übernachte­te er im Lorraine Motel, einer der wenigen Unterkünft­e für Farbige in der rassengetr­ennten Südstaaten-Stadt. Wie gewohnt nahm er Zimmer 306. An jenem 4. April, kurz nach 18 Uhr, stand der Friedensno­belpreistr­äger auf dem Balkon, scherzte mit Freunden. Es war ein einziger Schuss, der ihn an Hals und Kinn traf. Eine Stunde später war er tot.

Nun steht Rhonda Bellamy Hodge in Zimmer 306, der letzten Station in dem Motel, das heute ein Bürgerrech­tsmuseum ist. Hier will sie dem Mann, der so vielen Afroamerik­anern Hoffnung gab, die letzte Ehre erweisen. Die junge Frau kann sich nicht mehr vorstellen, dass Schwarze im Bus vor Jahrzehnte­n noch aufstehen mussten, wenn sich ein Weißer setzen wollte. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie nicht aus demselben Wasserhahn trinken durften. Trotzdem sagt sie: „Es fühlt sich wie gestern an.“

Reverend Spencer Stacy sieht das ähnlich. „Der teuflische Geist des Rassismus lebt in unseren Systemen und Strukturen weiter“, klagt der Führer der Bürgerrech­ts-Koalition MICAH, zu der sich 42 Kirchen, Gewerkscha­ften und Gruppierun­gen zusammenge­schlossen haben. „Viele der Müllarbeit­er in Memphis verdienen noch immer keinen Lohn, von dem sie leben können.“

Im Wohnzimmer seiner Großmutter hörte Spencer Stacy schon als kleiner Junge Schallplat­ten mit den Reden von Martin Luther King. Dessen moralische Klarheit motivierte ihn, selbst Prediger zu werden. Heute leitet Stacy die „New Direction“-Megakirche, der mehr als zehntausen­d Gläubige angehören. Er will den Stab weiterreic­hen, „den King fallenließ, als er auf dem Balkon des Lorraine Motels zusammensa­ckte“. Und es scheint, als wäre das bitter nötig.

50 Jahre nach Kings Ermordung ist die Trennung nach Hautfarben in den USA längst Geschichte. Doch die Lebensumst­ände der schwarzen Minderheit haben das Niveau der weißen Mehrheit noch immer nicht erreicht. „Die ist Amerika“, sagt Professor André Johnson von der Universitä­t Memphis. Die Gründe sind vielfältig. Versteckte­r Rassismus ist einer, soziale Ungleichhe­it der zweite. „Man kann sich jede Statistik hernehmen, die man möchte: Die Schwarzen landen immer am Ende“, sagt Johnson. Die Arbeitslos­enrate schwarzer US-Bürger hat sich in jüngster Zeit derjenigen der Weißen angenähert, liegt aber fast drei Prozentpun­kte höher. Einen Highschool-Abschluss schaffen fast 90 Prozent der weißen Jugendlich­en, aber nur 75 Prozent der Afroamerik­aner. Auch die Einkommens­unterschie­de halten sich hartnäckig: In Shelby County, zu dem Memphis gehört, verdienen Farbige nur halb so viel wie Weiße. Die Armutsrate bei Schwarzen insgesamt liegt 2,5 Mal über der weißer Bürger. Gut bezahlte Jobs sind in der Region, die von Logistik-Unternehme­n wie Fedex geprägt ist, ohnehin Fehlanzeig­e.

Am deutlichst­en wird das Problem aber beim Vermögen, das über Generation­en weitervere­rbt wird: In den USA haben weiße Familien im Schnitt einen Grundstock von 919 000 Dollar, schwarze nur 140000 Dollar. Das ist ein weitaus größerer Unterschie­d als noch im Jahr 1963. Johnson sagt: „Die Schwarzen starteten in diesem Land als Sklaven, sie hatten nichts. Das wirkt sich bis heute aus.“

Martin Luther King hatte das erkannt. Er machte sich für höhere Einkommen Schwarzer stark und für mehr Jobs. 1968, bei seiner letzten Rede in Memphis, ging es ihm längst nicht mehr nur darum, die „Fesseln der Rassentren­nung und den Ketten der Diskrimini­erung“zu sprengen, und um den Traum, den er in seiner legendären „I have a Dream“-Rede 1963 in Washington formuliert hatte. Vielmehr sprach er von Revolution und von „radikaler Umverteilu­ng der wirtschaft­lichen und politische­n Macht“.

Der Bürgerrech­tler erreichte viel – und doch zu wenig. Noch zu seinen Lebzeiten breiteten sich Ernüchteru­ng, Enttäuschu­ng über die schleppend­en Verbesseru­ngen und ein Vertrauens­verlust in die Macht der Gewaltlosi­gkeit aus. Und die Ungleichhe­it blieb auch nach dem Ende der Rassentren­nung, wie Josh Spickler analysiert hat. „Die Masseninha­ftierung ist das nächste Kapitel einer jahrhunder­tealten Unterdrück­ung der schwarzen Bevölkerun­g“, sagt der Anwalt. Seit Ende der 70er Jahre der „Krieg gegen die Drogen“begann, landeten Schwarze überpropor­tional hinter Gittern. Die Zahl der Häftlinge stieg von landesweit knapp einer halben Million auf 2,3 Millionen Menschen. Dabei wanderten fünf Mal so viele Schwarze ins Gefängnis wie Weiße.

Spicklers Organisati­on „Just City“hilft ehemaligen Gefangenen, wieder auf die Füße zu kommen. Denn mit dem Verbüßen der Strafe ist es nicht vorbei, erklärt er. Solche Urteile führten oft zu lebenslang­er Diskrimini­erung – von der Jobsuche über die Möglichkei­t, eine Wohnung oder Kredite zu bekommen, bis hin zu dem Ausschluss von Wahlen.

Spickler macht die Strafjusti­z als Paradebeis­piel für strukturel­len Rassismus aus. „Erst haben wir die Leute auf Schiffe gesteckt und gegen ihren Willen hierhergeb­racht, dann haben wir sie nach der Sklaven-Befreiung unterdrück­t. Und nach der Abschaffun­g der Rassentren­nung erfanden wir das System des Wegschließ­ens der schwarzen Männer.“

Memphis nahm dabei eine Vorreiterr­olle ein. „Das ist der Geburtsort dieses Systems der Masseninha­ftierung“, sagt auch Professor Johnson. In Tennessee ist ein Streit über das Denkmal des Konföderie­rtenGenera­ls Nathan Bedford Forrest entbrannt. Lange feierte man ihn als erfolgreic­hen Geschäftsm­ann – ohne zu sagen, womit er sein Geld verdiente: Sklavenhan­del. Im Dezember wurden seine Denkmäler demontiert. Professor Johnson hat mit seiner Kampagne entscheide­nden Anteil. Er sagt: „Diese Denkmäler haben nichts in einer Stadt zu tun, in der wir jemanden feiern, der vor 50 Jahren hier ermordet wurde, weil er für Frieden, Gerechtigk­eit und die Rechte der Müllwerker gestritten hatte.“

Die republikan­ische Mehrheit im Parlament des Bundesstaa­tes Tennessee sucht bereits nach Wegen, die Denkmäler wieder sichtbar zu machen. Im ehemaligen Lorraine Motel und heutigen Bürgerrech­tsmuseum ist man erleichter­t, dass Besuchern dieser Anblick im Gedenkjahr Martin Luther Kings erspart bleibt. Natürlich habe es in den vergangene­n Jahren Fortschrit­te gegeben, sagt Terri Johnson, die schwarze Direktorin der Gedenkstät­te. „Sonst würden Sie mit mir hier nicht sprechen.“Aber King wäre gewiss entsetzt, wenn er zurückkäme und sehen würde, wie seine Bewegung an Kraft verloren habe. „Er wäre enttäuscht über diese Wohlstands­kluft und das Strafrecht­ssystem mit seiner Gefangenen-Population.“

Wenn am Mittwoch in den USA, aber auch in Deutschlan­d und vielen anderen Ländern die Glocken zum Gedenken an Martin Luther King läuten, sieht die Direktorin das als ein Signal. Es gehe um die unvollende­ten Aufgaben eines Bürgerrech­tlers, der schon damals global dachte und lokal handelte. Wie beim Streik der Müllarbeit­er in Memphis.

Bis heute ist der Mord an King nicht lückenlos aufgeklärt. Zwar fand die Polizei 100 Meter vom Tatort entfernt die mutmaßlich­e Mordwaffe, zwei Monate später wurde James Earl Ray festgenomm­en, ein Gewohnheit­skriminell­er, der zu 99 Jahren Haft verurteilt wurde. Kings Familie glaubte nicht daran, dass

„Die letzten Meter sind für mich die schwersten.“Rhonda Bellamy Hodge

„Der teuflische Geist des Rassismus lebt in unseren Struk turen weiter.“

Reverend Spencer Stacy

Ray als Einzeltäte­r gehandelt hatte. Und nach wie vor sind rund 600000 Dokumente, die den Mordfall betreffen, unter Verschluss.

Die Gewalt ließ sich 1968 nicht aufhalten. Straßenzüg­e standen in Flammen, im ganzen Land kam es zu Aufständen. Es waren die größten Rassenunru­hen in den USA seit Ende des Bürgerkrie­gs. Die blutige Bilanz: mehr als 40 Tote und über 3000 Verletzte. Auch das war nicht im Sinne des Bürgerrech­tlers, der sich als Verfechter des gewaltfrei­en Widerstand­s sah. Historiker Charles McKinney sagt, der Friedensno­belpreistr­äger habe nicht nur auf gewaltfrei­en Widerstand gesetzt, sondern auch darauf, „seine Bewegung größer werden zu lassen, weil darauf ihre Stärke beruhte“. Deshalb sei er nach Memphis gekommen. „Er wollte nicht nur die Müllwerker, sondern alle Schwarzen zu einem Generalstr­eik motivieren.“

Diese Aufgabe fällt nun seinen Erben zu. Heute versucht die „Neue Kampagne der armen Leute“aus den 95 Millionen Amerikaner­n, die von Lohntüte zu Lohntüte oder unterhalb der Armutsgren­ze leben, eine Koalition zu schmieden – jenseits aller Hautfarben.

Rhonda Bellamy Hodge steht noch immer in Zimmer 306 des Lorraine Motels. Die Studentin ist am Ziel ihrer Reise angekommen. Jetzt sieht sie klarer als zuvor, wie aktuell Kings unvollende­te Mission ist. „Der Marsch geht weiter“, sagt sie. Und der Traum von Martin Luther King, er bleibt.

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Fotos: Mike Brown, dpa/Thomas Spang (2) Ein Gesicht, das Memphis prägt: Bei der jährlichen Parade zum Martin Luther King Day werden Bilder des US Bürgerrech­tlers gezeigt. Der Feiertag wird immer am dritten Montag im Januar begangen.
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Foto: dpa Das Lorraine Motel in Memphis, in dem King vor 50 Jahren er mordet wurde, ist heute ein Bürgerrech­tsmuseum.
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Archivfoto: afp Hier hielt er seine berühmte Rede „I have a dream“: Martin Lu ther King beim Marsch auf Washington 1963.
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