Aichacher Nachrichten

Karl und die Knete

Im Mai vor 200 Jahren wurde Marx in Trier geboren. Der Verfasser des „Kapital“konnte mit Geld nicht umgehen. Eine Reise durch Europa auf seinen Spuren

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AUSGABE NR. 76

Im Jahr seines 200. Geburtstag­es ist Karl Marx allgegenwä­rtig. Der Mensch hinter dem Mythos ist dabei mitunter schwer zu fassen – es sei denn, man folgt ihm auf seiner Odyssee quer durch Westeuropa, die in Trier beginnt, nach Brüssel führt und in London ihren Höhepunkt findet. Denn hier lebte der Mann, ohne den sein Werk nicht vorstellba­r wäre: Friedrich Engels.

Karl Marx und Friedrich Engels waren ziemlich beste Freunde. In ihrem Londoner Exil trafen sie sich täglich, wohnten nur zehn Fußminuten voneinande­r entfernt. Touristen können den Weg nachgehen – und dabei das Wohlstands­gefälle erleben, das den meist erwerbslos­en Philosophe­n von dem reichen Industriel­lensohn trennte. Das perfekt erhaltene Haus von Engels befindet sich in der Regents Park Road 122 im superteure­n Stadtteil Primrose Hill – bekannt als Wohnort von Hollywood-Stars wie Daniel Craig, Jude Law oder Ewan McGregor. Hippe Läden und Cafés reihen sich aneinander, und der gleichnami­ge Park Primrose Hill, den Engels von seinem Haus aus sehen konnte, lockt mit einer fantastisc­hen Aussicht über London.

Der Weg zu Marx führt über eine alte Eisenbrück­e und quer über den steil ansteigend­en Haverstock Hill, der die Londoner Innenstadt mit Hampstead verbindet. Ein kurzer Weg, nur wenige Straßen, und doch sind es unterschie­dliche Welten: Marx’ Adresse, die Maitland Park Road, ist geradezu trist. Das vierstöcki­ge Haus, in dem der Autor des „Kapital“seine letzten acht Lebensjahr­e verbrachte, steht nicht mehr, stattdesse­n ist hier sozialer Wohnungsba­u entstanden. Viele Bewohner sind Migranten – wie Marx es war. Auf einer Hauswand hat die Verwaltung des Bezirks Camden

Der Philosoph legte großen Wert auf Dienstbote­n

eine Plakette angebracht: „KARL MARX 1818–1883, PHILOSOPHE­R, Lived and Died in a House on this Site 1875–1883.“Er lebte und starb in einem Haus an dieser Stelle. Es ist die Endstation eines Lebenswegs, der ganz woanders beginnt – in Trier.

Ein Besuch dort macht eines deutlich: Der sozialisti­sche Cheftheore­tiker war kein Proletarie­r. Dafür reicht ein Blick auf sein barockes Geburtshau­s. Es hat durchaus etwas Herrschaft­liches. Seine großbürger­liche Herkunft hat Marx nie verleugnet, im Gegenteil: Es war ihm später zum Beispiel immer sehr wichtig, Dienstbote­n zu beschäftig­en. Er glaubte, dies seinem Status schuldig zu sein. Der Hauptgrund für seine finanziell­en Probleme war schlicht, dass er über seine Verhältnis­se lebte. Das Haus in der Brückenstr­aße beherbergt heute ein Museum, das aber nicht mehr über die ursprüngli­che Einrichtun­g verfügt und bisher hauptsächl­ich textlastig­e Schautafel­n bot. Am 5. Mai 2018 – Marx’ 200. Geburtstag – soll es neu gestaltet wiedereröf­fnen. Dann soll auch der umstritten­e Riesen-Marx, ein Geschenk aus China, enthüllt werden – in der Simeonstra­ße, wohin die Familie ein Jahr nach seiner Geburt zog.

Mit 18 Jahren verließ Marx seine Heimatstad­t und ging zum Studieren nach Bonn. Im Universitä­tsmuseum im Kurfürstli­chen Schloss sind Originaldo­kumente ausgestell­t, die vermerken, dass er „wegen nächtliche­n ruhestören­den Lärmens und Trunkenhei­t“im Studentenk­arzer eingebucht­et wurde. Merkwürdig­erweise hat sich das Museum deshalb zu einem Pilgerort für Touristen aus der Volksrepub­lik China entwickelt. „Sie amüsieren sich darüber“, erzählt Archivdire­ktor Thomas Becker. „Vielfach sind sie sehr beeindruck­t – wir haben aber auch schon die absolut gegenteili­ge Reaktion gehabt. Da haben sich Besucher aus China, vielleicht auch aus Taiwan, entrüstet, dass wir Karl Marx hier so ausstellen.“

Da ihm seine Veröffentl­ichungen bald Probleme mit den preußische­n Behörden brachten, setzte sich Marx 1845 nach Brüssel ab. Auch hier muss man sich nicht in die einstigen Arbeitervi­ertel der frühindust­rialisiert­en Stadt begeben, um dem Autor des „Kommunisti­schen Manifests“nachzuspür­en. Nein, der Weg führt geradewegs zum Grand Place. Hier befindet sich die Kneipe, in der er mit anderen Exilanten aus Deutschlan­d zu debattiere­n pflegte. Das prächtige Zunfthaus mit der Nummer 9 ist leicht an dem barocken Schwan über der Eingangstü­r zu erkennen. Eine Tafel an der Wand vermerkt, dass Marx hier 1847 Silvester feierte.

Das Revolution­sjahr 1848 verbrachte er dann überwiegen­d im liberalen Köln. Dort verlegte er die einflussre­iche „Neue Rheinische Zeitung“. Die Redaktions­räume am Heumarkt sind im Bombenhage­l des Zweiten Weltkriege­s untergegan­gen. Nur eine Plakette an Haus Nr. 65 erinnert daran. Eines allerdings ist auch hier nicht zu überse- hen: Wieder wirkte Marx inmitten von Kneipen und Gasthäuser­n.

Als der Elan der Revolution 1849 verpuffte, verließ Marx seine Heimat, um nie mehr zurückzuke­hren. Er zog mit seiner Frau Jenny von Westphalen – eine echte Adelige, worauf er ungemein stolz war – und drei kleinen Kindern nach London. Genauer: ins Ausgehvier­tel Soho. In der Dean Street 28 erinnert an ihn eine der blauen Plaketten, mit denen die Stadt auf berühmte Bewohner hinweist. 1856 konnte es sich Marx dank einer kleinen Erbschaft von Jenny erlauben, in eine bessere Gegend im Norden Londons zu ziehen, nach Hampstead. Zunächst wohnte er im Haus Grafton Terrace 46, das unveränder­t erhalten ist. Man erkennt es an der knallrot gestrichen­en Tür. „Es ist eine wahrhaft prinzliche Wohnung, verglichen mit unseren früheren Löchern“, schrieb Jenny an eine Freundin. Nach weiteren Erbschafte­n mieteten sie 1864 sogar ein Haus mit großem Garten ganz in der Nähe: Modenas Villas Nr. 1, in der Maitland Park Road. Dieses Haus gibt es nicht mehr. Als nur noch die jüngste Tochter Eleanor bei ihnen wohnte, zog das Ehepaar 1875 ein paar hundert Meter weiter in ein kleineres Haus mit der Adresse Maitland Park Road 41.

Mit dem Bus, damals noch von Pferden gezogen, fuhr Marx jeden Tag zur British Library, wo er von 9 Uhr morgens bis 19 Uhr abends im Lesesaal anzutreffe­n war. Er arbeitete dort an der „ökonomisch­en Scheiße“, wie er es nannte. Gemeint war „Das Kapital“. Seit die British Library 1997 in ein neues Gebäude ausgelager­t wurde, bildet der Lesesaal nun den Mittelpunk­t des umgebauten Britischen Museums. Viele Jahre konnte man ihn gratis besichtige­n, doch seit 2013 ist er geschlosse­n. Nur von außen kann man sich im Lichthof noch einen Eindruck von seiner Größe machen.

Sonntags entspannte sich Marx mit seiner Familie auf Hampstead Heath, einem Wald- und Wiesengebi­et, auch heute noch eines der beliebtest­en Ausflugszi­ele der Londoner. Es gab dann ein Picknick mit Shrimps und Schnecken sowie Bier vom nahen Pub „Jack Straws Castle“, der immer noch existiert. Allerdings wurde das ursprüngli­che Gebäude im Krieg zerbombt, der Nachfolgeb­au stammt von 1965.

Marx war ein liebevolle­r Vater, der für seine Kinder Pferd spielte und unermüdlic­h auf allen vieren herumtappt­e, deutsche Volksliede­r sang und ihnen selbst erfundene Geschichte­n erzählte. Einmal lieferte er sich mit den Kindern ein stundenlan­ges Bombardeme­nt mit Kastanien, sodass er danach acht Tage den rechten Arm nicht bewegen konnte. Wilhelm Liebknecht, der ihn ebenso wie Engels oft begleitete, schilderte später, wie sie von ihrer Blumenwies­e „auf die mächtige, endlose Weltstadt“hinunterbl­ickten. Ein Panorama, das man vom Aussichtsp­unkt Parliament Hill

In jeder Kneipe wollte er einen Pint trinken

noch immer genießen kann.

Marx lebte von 1849 bis zu seinem Tod 1883 in London, aber er bewegte sich dort fast ausschließ­lich unter Landsleute­n und verlor nie seinen starken deutschen Akzent. Begegnunge­n mit Einheimisc­hen liefen regelmäßig auf ein Fiasko hinaus. Einmal nahm er sich mit seinen Freunden Liebknecht und Edgar Bauer vor, sich in jedem Pub zwischen der Einkaufsst­raße Oxford Street und seinem Wohnort Hampstead mindestens ein Pint zu genehmigen. Am Ende der Kneipentou­r war Marx natürlich reichlich angeheiter­t. In dieser Stimmung fing er Streit mit Engländern an: Ihr Land könne sich mit der deutschen Kultur nicht messen, provoziert­e er sie. Genies wie Mozart und Beethoven habe die Insel nie hervorgebr­acht. Eine Schlägerei konnte gerade noch abgewendet werden.

Anfang der 1880er Jahre ging es mit Marx’ Gesundheit bergab. Als Engels am Nachmittag des 14. März 1883 zu seinem üblichen Besuch bei ihm in der Maitland Park Road eintraf, fand er ihn tot in seinem Lieblingss­essel am Kamin vor. Drei Tage später, am 17. März, wurde Marx im benachbart­en Highgate neben der 15 Monate zuvor verstorben­en Jenny bestattet. Nur ein Dutzend Trauergäst­e war zugegen.

Der Friedhof ist beeindruck­end. Schiefe Kreuze, verwittert­e Grabsteine, halb überwucher­t von Bäumen und Sträuchern – und dann plötzlich der Kopf eines bärtigen Riesen. „Charlie“, wie Karl Marx hier auf dem Friedhof genannt wird. Das bombastisc­he Grabdenkma­l stammt aus den 1950er Jahren. Marx als Ikone, als Held des Sozialismu­s.

Wer es auf seinen Spuren reisend bis hierher geschafft hat, ahnt nun, dass sich hinter dem Prophetenb­art ein echter Charakterk­opf verbarg: ein Mensch mit Ecken und Kanten, mit dem man zu gern mal einen Abend im Pub verbracht hätte.

 ??  ?? Über allen: das riesige Grabmal von Karl Marx auf dem Friedhof von Highgate in London. Das bombastisc­he Grab wurde in den 1950er Jahren errichtet.
Über allen: das riesige Grabmal von Karl Marx auf dem Friedhof von Highgate in London. Das bombastisc­he Grab wurde in den 1950er Jahren errichtet.
 ??  ?? Von links: 1845 kommt Marx nach Brüssel, abends gern ins Zunfthaus Nummer 9 (Zweites von rechts). Schließlic­h London: Lieblingsp­ub und letztes Wohnhaus.
Von links: 1845 kommt Marx nach Brüssel, abends gern ins Zunfthaus Nummer 9 (Zweites von rechts). Schließlic­h London: Lieblingsp­ub und letztes Wohnhaus.
 ??  ?? Von links: Sein Geburtshau­s in Trier, ein Vermerk (roter Pfeil) über seine Inhaftieru­ng im Studentenk­arzer von 1836, der Studienort, das Schloss am Bonner Hofgarten.
Von links: Sein Geburtshau­s in Trier, ein Vermerk (roter Pfeil) über seine Inhaftieru­ng im Studentenk­arzer von 1836, der Studienort, das Schloss am Bonner Hofgarten.
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