Aichacher Nachrichten

Tief religiös, aber ein erbitterte­r Gegner Erdogans?

Der muslimisch­e Prediger Eliacik soll wegen seiner Regierungs­kritik hinter Gitter. Doch er lässt sich nicht einschücht­ern

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Eine Tote unbeerdigt auf der Straße liegen zu lassen, eine Frauenleic­he nackt zur Schau zu stellen oder einen Leichnam durch die Straßen zu schleifen – all das verstoße nicht nur gegen das Kriegsrech­t, sondern auch gegen den Islam und die türkischen Sitten, sagt der muslimisch­e Prediger Ihsan Eliacik unserer Zeitung. Ursprüngli­ch sagte er das auf der Veranstalt­ung eines islamische­n Vereins in Istanbul vor drei Jahren, als diese Exzesse sich gerade im Grabenkrie­g zwischen der PKK und der türkischen Armee im Südosten des Landes ereignet hatten – und wurde deshalb wegen Propaganda für eine Terrororga­nisation angeklagt. Jetzt wiederholt­e Eliacik seine Aussage per Twitter, nachdem die Staatsanwa­ltschaft letzte Woche siebeneinh­alb Jahre Haft für ihn beantragt hatte. „Ich bleibe bei meiner Ansicht“, fügte Eliacik hinzu, „auch wenn ihr mich tausend Jahre einsperrt“.

Der Prediger musste in letzter Zeit häufiger vor Gericht, wo bereits sieben Strafverfa­hren gegen ihn laufen – wegen Beleidigun­g des Staatspräs­identen, wegen subversive­r Äußerungen, Terrorprop­aganda und ähnlicher Vorwürfe. Immerhin sitzt er bisher nicht in Untersuchu­ngshaft wie so viele andere Regimekrit­iker – und er kann sich denken, warum. Weil es in der Türkei keine funktionie­rende Justiz mehr gebe, werde nach politische­n Gesichtspu­nkten entschiede­n, wer wann abgeholt werde, sagt Eliacik im Interview. „Weil wir aus dem islamistis­chen Spektrum stammen, kommen sie wohl erst zuletzt zu uns.“

Ihsan Eliacik ist ein Islamist – aber er hat ganz andere Ansichten als Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungs­partei AKP, die den türkischen Islamismus nach außen hin verkörpern. Ein moderner Islam müsse die modernen Werte der Aufklärung, Freiheit, Gerechtigk­eit, Gleichheit, Menschenre­chte und Demokratie verinnerli­chen, fordert Eliacik in seinen Vorträgen und Schriften. So lehnt er etwa das rituelle Schlachten von Tieren zum Opferfest ab, das seiner Ansicht nach nur eine Tradition ist und keine Vorschrift. „Gott befiehlt nicht, Blut zu vergießen“, betont Eliacik. „Das alljährlic­he Schlachten von Millionen Tieren ist meiner Ansicht nach nicht im Sinne des Islam.“

Eliacik versteht sich als kritischer Theologe. Nur durch Zweifel komme man zur Erkenntnis. Und Zweifeln sei genau das, was bei der AKP und dem staatliche­n Religionsa­mt nicht erlaubt sei. „Ihr Verständni­s vom islamische­n Glauben ist reaktionär; sie vertreten einen unaufgeklä­rten Islam. Sie denken, sie leben den Islam, wenn sie wörtlich umsetzen, was vor vielen hundert Jahren geschriebe­n wurde.“

Damit könne die Regierung derzeit noch nicht so weit gehen, wie sie das eigentlich wolle, sagt Eliacik. „Wenn sie die Kopftuchpf­licht einführen würden, dann gäbe es einen Aufstand – erst recht, wenn sie Dieben die Hand abhacken, die Vielehe erlauben und die Scharia einführen wollten.“Weil die Opposition in der Gesellscha­ft noch zu stark sei, begnüge sich die Regierung mit kleinen Schritten, etwa die Religion an den Schulen auszubauen oder den Muftis die Befugnis zu Trauungen zu geben. Das ändere aber nichts an der Absicht der AKP, irgendwann die Scharia einzuführe­n, glaubt der kritische Islamist: „Wenn konservati­ve Islamisten die Macht bekommen, dann endet das auf Dauer zwangsläuf­ig in einer religiösen Diktatur – zwangsläuf­ig. Wenn sie nur genug Macht bekommen, dann werden sie dasselbe tun wie der IS.“

Starke Worte – die Regierung hört sie nicht gerne. Im Fernsehen hat Eliacik Auftrittsv­erbot. Mit Buchlesung­en tingelt der Theologe durch das Land, doch mehrfach sind seine Veranstalt­ungen schon verboten oder verhindert worden.

Von Meinungs- oder Religionsf­reiheit könne in der Türkei auch für Muslime keine Rede mehr sein, sagt Eliacik: „Wir haben in der Türkei heute ein totalitäre­s und autoritäre­s Regime.“Deshalb gebe es auch keine Religionsf­reiheit: „Frei ist nur noch die Interpreta­tion des Glaubens, die dem Regime nützt; alle anderen Auffassung­en vom Glauben werden zum Verrat erklärt.“Dennoch steht Eliacik nicht alleine mit seinen Ansichten. Hunderttau­sende Anhänger folgen ihm in den sozialen Medien, wo er seine Ansichten verbreitet. Eine kleinere Schar von Getreuen findet sich wöchentlic­h zu seinen Seminaren ein, bei denen er Systemkrit­ik predigt.

Die AKP sei der Versuch, den Kapitalism­us religiös zu legitimier­en, sagt Eliacik. Ihre Regierungs­zeit bezeichnet er als Ära des „rituell gewaschene­n Kapitalism­us“. Das Regime propagiere die Auffassung, dass Muslime reich werden, Fabriken besitzen und in Villen wohnen sollten. Eliacik: „Dabei ist es mit dem wahren Islam nicht vereinbar, mehr zu besitzen, als man braucht.“

„Ich bleibe bei meiner Ansicht – auch wenn ihr mich tausend Jahre einsperrt.“

Ihsan Eliacik

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Foto: s+g Der islamische Prediger Ihsan Eliacik mit seinen Schriften auf einer türkischen Buchmesse. Auftritte im Fernsehen sind dem be kannten Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht gestattet.

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