Ihre Delikte muten heute lächerlich an
Frauenforum hält Erinnerungskultur an in der Nazizeit in Aichach inhaftierte Frauen wach. Historiker liefert bei Vortrag in Aichach weitere Details zu vielen Schicksalen. Einen Besucher interessiert das aus persönlichen Gründen
Aichach Schon der Schriftsteller und Widerstandskämpfer André Malraux, der 1944 kurzzeitig von den Nazis eingesperrt wurde, wusste, „wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern“. Eben zu diesem Zweck lud das Frauenforum Aichach-Friedberg ins historische Kreuzgratgewölbe des Aichacher Kreisgutes. Das Forum will die Erinnerung an in Aichach gefangene Frauen in der Nazizeit lebendig halten.
Historiker Franz Josef Merkl hat, wie mehrfach berichtet, ausführlich das Schicksal von 362 Frauen recherchiert, die zwischen 1933 und 1945 in der Frauenhaftanstalt Aichach in Sicherheitsverwahrung einsaßen. 199 Frauen konnte er namentlich ausfindig machen. Diese bisher nicht offiziell als Opfergruppe des Dritten Reiches anerkannten Frauen wurden zumeist für Delikte wie Diebstahl oder Schwarzschlachten verhaftet und unter menschenverachtenden Bedingungen festgehalten. 1943 wurden sie in mehreren Transporten auf Befehl Heinrich Himmlers und Otto Thieracks „zur Vernichtung durch Arbeit“ins Konzentrationslager AuschwitzBirkenau. Dies überlebten von den 199 Frauen lediglich zwei.
Der Titel des Vortrages „Ausgegrenzt. Eingesperrt. Deportiert. Vergessen?“ist laut Landrat Klaus Metzger treffend gewählt. Er müsse ganz klar auf die Frage „Vergessen?“mit einem „Nein!“beantwortet werden. Metzger dankte deshalb den weit über 100 Besuchern im Kreisgut für ihr Kommen, damit dieser Teil der Aichacher Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Aichachs Bürgermeister Klaus Habermann mahnt dazu, mit der Geschichte offen umzugehen, um aus ihr zu lernen. Jacoba Zapf vom Frauenforum regte das Publikum zum Nachdenken über einen Ort des Gedenkens an diese Frauen an.
Merkl stellt in seinem Vortrag 43 Frauenschicksale vor. Die Natur der ihnen zur Last gelegten „Verbrechen“mutet heutzutage geradezu lächerlich an. Anschuldigungen wie „Wehrkraftentzug“, „unerlaubter Waffenbesitz“, „Rundfunkverbrechen“„verbotener Umgang mit Kriegsgefangenen“oder „Sittlichkeitsverbrechen“und „Diebstahl im Rückfall“bedeuteten für die meist armen Frauen am Rand der Gesellschaft nicht selten jahrelange Haft unter menschenunwürdigen Bedingungen und oft den Tod. Im Anschluss an den bedrückenden Vortrag, den Cellistin Hyun-Jung Berger mit melancholischen Klängen einrahmt, zeigt das Aichacher Publikum durch zahlreiche Fragen großes Interesse für dieses dunkle Kapitel unserer Vergangenheit. Die mögliche Schaffung eines Gedenkortes war dabei aber kein Thema.
Altlandrat Christian Knauer zum Beispiel will wissen, ob die zum Ende des Zweiten Weltkrieges stark ansteigenden Zahlen der Aichacher Gefängnisinsassinnen auch der Evakuierung anderer Strafanstalten geschuldet gewesen sei. Dies kann Merkl nur als einen von vielen Gründen bestätigen. Vor allem seien Rüstungszwecke im Vordergrund gestanden, da die Frauen dem Regime als Zwangsarbeiterinnen sehr nützlich gewesen seien. Ob Misshandlungen aus der Aichacher JVA in dieser Zeit bekannt seien, lautet eine Frage aus dem Publikum. Dies kann der Historiker zum Großteil verneinen. Mit Sicherheit sei es vorgekommen, aber nicht vorwiegend. Wobei man nicht vergessen dürfe, dass körperlich schwere Arbeit, stundenlanges Stehen mit Gesicht gegen die Wand, absolutes Sprechverbot rund um die Uhr und Essensentzug als Strafen auch bei sehr alten Gefangenen zumindest als psychische, wenn nicht auch als körperliche Misshandlung gesehen werden könnten. Auf die Frage, ob Kinder der Häftlinge mit ihren Müttern in der JVA lebten, antwortet Merkl, dass Geburten im Gefängnis durchaus zum Alltag gehörten. Deshalb sei ständig eine Hebamme vor Ort gewesen. Diese Kinder verbrachten zumeist einige Monate bei ihren Müttern und wurden dann in Kinderheime gebracht oder zur Adoption freigegeben.
Bei diesem Thema meldet sich Georg Knöpfle aus Buttenwiesen zu Wort. Der Hobbyhistoriker hat für seine Frau herausgefunden, dass seine heute noch lebende Schwiegermutter Anna Ingetraud Gabriel (geb. Groß) am 4. August 1939 in der Haftanstalt Aichach geboren wurde. Nach drei Monaten, die sie mit ihrer leiblichen Mutter Anna Maria Groß verbrachte, kam sie zu einer liebevollen Adoptivfamilie in Handzell. Nach ihrer Entlassung suchte die leibliche Mutter regelmäßigen Kontakt zu ihrer Tochter, bis sie am 20. September 1942 bei einem Fliegerangriff in München ums Leben kam. Knöpfle hat bislang erfolglos versucht, Näheres über die Gründe der Inhaftierung von Anna Maria Groß in Erfahrung zu bringen. Durch einen Zufall kam er zu Merkls Vortrag. Mithilfe einiger Tipps des Historikers stehen die Chancen nun gut, dass diese Lücke in der Familienchronik bald geschlossen werden kann.