„Fass deine Schwester an“
Auf den Philippinen werden tausende Kinder für Livestreams im Internet missbraucht. Manche der Opfer werden von den eigenen Eltern verkauft, andere auf Wunsch von Pädophilen von ihren Verwandten vergewaltigt. Die Kunden stammen aus aller Welt – auch aus D
Manila „Ich musste alles machen, was sie von mir verlangten. Ich habe Dinge getan, von denen ich nicht dachte, dass ich sie jemals tun würde. Ich habe mich so schmutzig gefühlt.“Rubys* Stimme zittert, dann laufen ihr Tränen über die Wangen – zu viele für das Taschentuch, das sie beim Erzählen in winzige Fetzen gerissen hat. Die Schatten ihrer eigenen Vergangenheit haben Ruby eingeholt. Mal wieder. Als 16-Jährige wurde sie gezwungen, sich vor einer Webcam auszuziehen und zu tun, was Pädophile von ihr verlangten. Ruby wurde befreit, doch tausende Mädchen und Buben auf den Philippinen werden für Livestreams im Internet immer noch sexuell missbraucht. Manche der Opfer sind erst wenige Monate alt, viele werden von ihren eigenen Eltern verkauft. Die Kunden stammen aus aller Welt, auch aus Deutschland.
Das Landgericht Traunstein hat Anfang April den Malermeister Martin R. wegen Anstiftung zum sexuellen Missbrauch von philippinischen Kindern zu einer Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren verurteilt. Der 48-Jährige hatte Rosa, der Mutter der Kinder, über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren mehrere tausend Euro gezahlt und dafür unter anderem verlangt, dass die Kinder sich vor einer Webcam ausziehen, tanzen und urinieren.
Schon zwei Mal war der Mann einschlägig mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und hatte Strafbefehle über je acht Monate auf Bewährung erhalten. Einmal war es Kinderpornografie, ein anderes Mal begrapschte er seine Tochter. Die erste Ehe zerbrach. Der Richter sprach von einer gewissen Unbelehrbarkeit. Dass der 48-Jährige nach weniger als fünf Jahren wieder straffällig wurde, wirkte sich strafverschärfend aus. Im August war der Maler in U-Haft genommen worden. Die Staatsanwaltschaft Traunstein und das Bundeskriminalamt (BKA) beschrieben die Tat damals als „noch neuen Modus Operandi des ,Webcam Child Sex Tourism‘ (WCST)“. Das Verfahren in Traunstein war eines der ersten dieser Art in Deutschland.
Jetzt haben auch die Philippinen selbst dem Verbrechen den Kampf angesagt, dem Ruby zum Opfer gefallen ist. Das Mädchen war elf Jahre alt, als ihre Eltern starben. Danach gab es immer wieder Streit mit ihren neun älteren Geschwistern, oft schlugen sie Ruby mit einem Kabel. Ruby wollte nur noch weg. Da blinkte die vermeintliche Rettung plötzlich auf ihrem Smartphone auf. Eine junge Frau kontaktierte Ruby über Facebook, schmeichelte der sich nach Zuwendung sehnenden Schülerin, bot ihr einen Job als Kassiererin in einem Internetcafé an und schickte Geld für die Reise. ihren Geschwistern Bescheid zu sagen, machte sich Ruby auf den Weg. 24 Stunden war sie mit Bus und Fähre unterwegs, schließlich brachte ein Angestellter ihrer neuen Facebook-Bekanntschaft sie zu einem kleinen Haus. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, begriff Ruby, dass sie betrogen worden war. „Ich war total schockiert, als plötzlich halb nackte Mädchen aus den Zimmern kamen. Ich dachte, es passiert nur im Film, dass Kinder verschleppt werden, um sich vor der Kamera auszuziehen.“
Ruby wollte zurück zu ihren prügelnden Schwestern, doch am nächsten Tag stand sie vor der Webcam – und zog sich aus. „Ich musste mich selbst missbrauchen, und andere sahen mir dabei zu“, erzählt Ruby und wieder laufen ihr Tränen über das Gesicht. Erreichte sie in ihrer Acht-Stunden-Schicht nicht die Umsatzvorgaben oder weigerte sie sich, die perversen Wünsche der Kunden zu erfüllen, bekam sie weniger zu essen. Zwischen zehn und dreißig Euro zahlten die meisten ihrer Kunden für einen Live-SexChat mit der Minderjährigen.
„Ich dachte, ich müsste in diesem Gefängnis sterben“, erzählt Ruby. Sie wusste nicht, dass philippinische Ermittler ihren Peinigern da bereits auf der Spur waren. Eines Morgens stürmten schwer bewaffnete Polizisten ins Haus. „Ich war glücklich. Aber ich sah die Panik in den Augen der anderen Mädchen. Die Jüngste war erst acht“, berichtet Ruby in der Einrichtung einer christlichen Hilfsorganisation in der Nähe von Manila. Ruby kam ins Wohnheim einer Partnerorganisation der International Justice Mission (IJM), die sich gegen Sklaverei und Zwangsarbeit einsetzt. Dazu arbeitet die Organisation in zehn Ländern eng mit Polizei, Justiz und Gesetzgebern zusammen. Auch eigene verdeckte Ermittler, Anwälte und Sozialarbeiter sind im Einsatz.
Auf den Philippinen steht der Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen im Internet ganz oben auf der Agenda. „Die Philippinen sind laut dem FBI das Epizentrum der CybersexKriminalität mit Kindern. Wir kämpfen für ein Ende dieser abscheulichen Verbrechen“, sagt IJMLandesdirektor Sam Inocencio.
Doch wie konnten die Philippinen zum Internetsex-Hotspot werden? Und wie soll dieses globale und boomende Business bekämpft werden? IJM-Mann Inocencio kennt Antworten und Lösungsansätze. Etwa ein Fünftel der rund 105 MilOhne lionen Filipinos lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die Möglichkeit, im Internet mit der sexuellen Ausbeutung von Kindern – oft der eigenen – schnelles Geld zu verdienen, erscheint da verführerisch. Zudem gibt es mittlerweile auch in ländlichen Gebieten billiges und schnelles Internet für Livestreams und Bezahlung.
Die entsprechenden Gesetze zur Bekämpfung der Cybersex-Kriminalität gibt es bereits. Im von Präsident Duterte autoritär regierten Land kann die sexuelle Ausbeutung von Kindern mit lebenslanger Haft bestraft werden. „Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass diese Gesetze auch konsequent umgesetzt werden“, sagt Inocencio. „Wir müssen die Risiken für Anbieter und Konsumenten so sehr erhöhen, dass Angebot und Nachfrage stark zurückgehen. Auf den Philippinen und in allen Ländern, in denen die pädophilen Kunden sitzen.“
In Frankfurt am Main zum Beispiel. Dort nahm das Bundeskriminalamt Mitte Januar einen 52-jährigen Deutschen fest. Über das Internet soll er sich in mindestens drei Fällen zum schweren sexuellen Missbrauch philippinischer Kinder verabredet haben. Er soll bereit gewesen sein, dafür mehrere hundert Euro zu zahlen. Außerdem soll der Vater eines Kindes, der längere Zeit auf den Philippinen lebte, sich über 1900 kinderpornografische Bilder und Videos besorgt haben. Bereits wenige Wochen nach seiner Festnahme wollte der Pädophile erneut auf die Philippinen reisen. IJMErmittler hatten in dem Fall der philippinischen Polizei geholfen, Beweismaterial zu sichern.
Marcus, der nicht möchte, dass sein richtiger Name in der Zeitung steht, ist einer dieser IJM-Ermittler. „Dort hinten haben wir aus einem Haus mehrere Kinder befreit, die in Livestreams missbraucht wurden. Das jüngste war sieben Jahre alt“, sagt er und zeigt durch die getönten Scheiben eines unauffälligen Toyotas auf den Eingang einer engen Gasse in einem der vielen Slums in der Hauptstadt Manila. Marcus war selber zehn Jahre Polizist, bevor er als Ermittler zur IJM wechselte. „Unsere Undercover-Arbeit ist gefährlich. Die Leute sind misstrauisch, wenn in ihrer Nachbarschaft ein fremdes Gesicht auftaucht. Sie wissen, dass sie für den sexuellen Missbrauch von Kindern für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis gehen können. Und sie sind teilweise bewaffnet“, sagt der Ermittler.
Bei ihren Befreiungsaktionen kooperiert die IJM stets mit der philippinischen Polizei. „Bislang können wir leider fast nur aktiv werden, wenn wir von ausländischen Ermittlungsbehörden wie dem FBI oder dem Bundeskriminalamt Hinweise bekommen“, gibt William Solano Macavinta in einem spartanisch eingerichteten Zimmer im PolizeiHauptquartier in Manila zu. Für eigene Anfangsermittlungen fehlt es dem Leiter der Abteilung für den Schutz von Frauen und Kindern bislang an Personal, Ausstattung und Erfahrung bei der Bekämpfung der Cybersex-Kriminalität.
Mithilfe der IJM fanden auf den Philippinen in den letzten drei Jahren rund 80 Befreiungsaktionen statt. Fast 300 Opfer sexueller Online-Ausbeutung konnten so gerettet werden. Knapp 90 Prozent von ihnen waren minderjährig, mehr als die Hälfte sogar unter zwölf Jahre alt, das jüngste Kind war gerade einmal zwei Monate alt. In etwa 80 Prozent der Fälle wurden die Kinder von ihren eigenen Eltern oder engen Verwandten missbraucht. Die IJM-Operationen führten bislang zur Verhaftung von rund 130 Verdächtigen, 24 von ihnen wurden bereits zu meist langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Auch das Ehepaar, das Ruby einsperrte und zum Webcam-Sex zwang, sitzt derzeit eine 15-JahreStrafe
In Traunstein wurde gerade ein 48 Jähriger verurteilt
Ruby sagte gegen ihre Peiniger vor Gericht aus
ab. Rubys Aussage hat dazu entscheidend beigetragen: „Ich habe sie gehasst, und ich wollte, dass sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden“, sagt die Studentin, die eines Tages als Anwältin Opfern sexuellen Missbrauchs beistehen möchte.
Auf ihre Angaben vor Gericht werden befreite Kinder von Sozialarbeitern und Anwälten vorbereitet. Viele von ihnen mussten sich nicht nur vor einer Webcam ausziehen, sondern sich auch an ihren eigenen Geschwistern vergehen. „Fass deine Schwester an“ist ein häufiger Wunsch der Kunden. Oder sie fordern, dass die Kinder von Erwachsenen – teils ihren eigenen Eltern – vergewaltigt oder gar gefoltert werden. „Diese Kinder leiden unter Albträumen, Panikattacken und Depressionen. Manche wollen sich umbringen, andere werden aggressiv“, berichtet Dolores Rubia, die bei der IJM für die Betreuung der aus der Sexsklaverei befreiten Kinder und Jugendlichen verantwortlich ist.
Mit einer Mischung aus Gesprächs-, Mal-, Musik- und Spieltherapie und teilweise mithilfe von Antidepressiva gelingt es den Therapeuten in den meisten Fällen, die missbrauchten Kinder zu heilen. So wie Ruby. Die heute 21-Jährige: „Ich bin nicht mehr das Mädchen, das vor der Webcam erniedrigt wurde, auch wenn der Missbrauch immer Teil meiner Geschichte bleiben wird.“