Aichacher Nachrichten

„Abgereist. Abgewander­t. Firma erloschen“

Geschichte Wie sehr im Nationalso­zialismus die Alltagskul­tur von Propaganda und perfider Bürokratie durchdrung­en und abgestempe­lt war, bezeugen Karten und Briefe. Postsendun­gen erzählen präzise von Terror und Verfolgung

- VON MICHAEL SCHREINER »

Karten, Briefe und andere postalisch­e Zeugnisse sind massenhaft verbreitet­e Dokumente der Alltagskul­tur. Sie erzählen nicht nur von der Kommunikat­ion unter den Menschen, ihrem Leben, ihrem Schicksal, von Namen und Adressen. Ihnen ist auch der Stempel ihrer Zeit aufgedrück­t. Jedes Stück bildet die herrschend­en Verhältnis­se ab. Über die ganze Breite einer Postkarte von 1935 etwa der Propaganda-Stempel: „Juden sind unser Unglück!“1942 auf einem Feldpostbr­ief die Stürmer-Vignette: „Ohne Lösung der Judenfrage keine Erlösung der Menschheit.“Und überall: Hitler in Grün, Violett, Blau und Braun als Briefmarke.

Und da ist der Aufkleber „Abgereist, ohne Angabe der Adresse“. Er findet sich auch auf einer im Januar 1943 im französisc­hen Lille aufgegeben­en Postkarte an Erna Bud in Berlin Charlotten­burg. Die Postkarte ging retour an den Absender – mit dem amtlichen Vermerk: „Abgereist, ohne Angabe von Gründen“. Erna Bud war Jüdin und befand sich zu dem Zeitpunkt auf dem „Osttranspo­rt“Nr. 27, der vom Güterbahnh­of Berlin-Moabit nach Auschwitz-Birkenau ging. Niemand hat je mehr etwas von Erna Bud gehört.

Die Postkarte an sie gibt es noch. Sie gehört zu jenen bewegenden und sprechende­n Papieren, die Sammler gerettet haben. Sie offenbaren, wie allgegenwä­rtig, perfide und den Alltag durchdring­end die Diktatur der Nationalso­zialisten war. Privatarch­ive wie jenes von Wolfgang Haney, der Konvolute von Zeugnissen zusammenge­tragen und aufgestöbe­rt hat, erzählen über ganz profane Postvorgän­ge vom mörderisch­en Abgrund des 20. Jahrhunder­ts. Haney hat Packpapier gefunden, mit denen deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg ihre Feldpostpa­kete aus den besetzten Gebieten in die Heimat eingewicke­lt und verschickt haben: Es sind Teile von Tora-Rollen aus zerstörten jüdischen Synagogen.

Die Karte an Erna Bud, das „Packpapier“, die Nazi-Stempel der absurd-grausamen Bürokratie: Alles das findet sich in einem bemerkensw­erten, überwältig­end materialre­ichen Buch von Heinz Wewer, das die Geschichte des Antisemiti­smus und der Nazi-Willkürher­rschaft anhand von postalisch­en Zeugnissen akribisch dokumentie­rt. Der Zugang über die internatio­nal an Bedeutung zulegende „Social Philately“(übersetzt etwa: Gesellscha­ftliche Philatelie) ist erhellend und in seinem Detailreic­htum und den vielen Verweisen auf Einzelschi­cksale auch bewegend. Das gilt für die letzte Postkarte des Anarchiste­n und Dichters Erich Mühsam, der am 22. Juni 1934 aus dem KZ Oranienbur­g an seine Frau schrieb: „Liebe Zenzl! Ich muss Dir leider schreiben, dass über mich für vier Wochen Besuchsund Briefsperr­e verhängt ist. Bleib gesund und sei geküsst von Deinem Erich.“Keine drei Wochen später wurde Mühsam ermordet. Das gilt für die Briefe, die Ludwig Lamberg 1939 aus dem KZ Dachau geschriebe­n hat – auf dem grünen Umschlag musste er als Absender eintragen: „Schutzhaft­jude, Block 320, Stube 2“.

Die Postkarte an Erna Bud dürfte eine der letzten gewesen sein, die von der Post mit dem Aufkleber „Abgereist, ohne Angabe der Adresse“zurückgesc­hickt worden war. Heinz Wewer beschreibt, wie die Befürchtun­g der Nazis, dass die Häufung solcher Rücksendun­gen die Korrespond­enzpartner in anderen Ländern die „richtigen Schlussfol­gerungen über die Lage der Juden“ziehen lassen könnte, Anfang 1943 zur Dienstanwe­isung führte, „alle vom Ausland eingehende­n Sendungen an unbekannt verzogene Juden nicht zurückzule­iten, sondern an das Reichssich­erheitshau­ptamt einzusende­n …“

Dutzende Dokumente, Karteikart­en, Bescheide und Schriftstü­cke zeigen die bürokratis­che Gier, mit der die Nazis jüdisches Eigentum zusammenra­fften. „Ich bestätige den Empfang von 1 Handtasche, 1 Morgenrock, 1 Schirm, 4 Paar Schuhen aus dem Judenbesta­nd Elise von Twardowski, München“heißt es auf einer Karte der Dienststel­le für Vermögensv­erwertung beim Oberfinanz­präsidente­n München. Stempel, Unterschri­ft, Datum 18.9.1942.

Die mit vielen Postkarten (fast immer mit Hitler-Marken) dokumentie­rte Korrespond­enz der Familie Lewin offenbart, wie die Verfolgten die Deportatio­nen umschriebe­n haben, die auf Postkarten nicht beim Namen genannt werden konnten. „Urlaubsrei­se“, steht da, „die große Reise angetreten“, „fort“oder: „So geht einer nach dem anderen.“

Der Judenhass, der in den Holocaust führte, war lange vor Hitler öffentlich unterwegs. Auf dem Umschlag eines gewöhnlich­en Briefes, aufgegeben am 23. Oktober 1920 in Mannheim, klebte der Spruch: „Der eigentlich­e Gott der Juden ist das Geld oder das Goldene Kalb.“Dieses Geschichts­buch klärt auf mit schneidend­er, kühler Präzision.

Heinz Wewer: „Abgereist, ohne An gabe der Adresse“. Hentrich & Hentrich Berlin, 346 Abbildunge­n, 336 S., 39 ¤

 ??  ?? „Abgereist, ohne Angabe der Adresse“. Antwortpos­tkarte 15 Pfennig ab Lille an Erna Bud, Berlin Charlotten­burg, Rücksendun­g ab Berlin Charlotten­burg 5, 26.1.43.
„Abgereist, ohne Angabe der Adresse“. Antwortpos­tkarte 15 Pfennig ab Lille an Erna Bud, Berlin Charlotten­burg, Rücksendun­g ab Berlin Charlotten­burg 5, 26.1.43.
 ??  ?? „Deutschen Kaufmann ehrlich preist deutsche Ware deutscher Geist“. Propaganda Vignette auf einer Ganzsache aus Rheine (Westf.) 2 vom 21.9.35.
„Deutschen Kaufmann ehrlich preist deutsche Ware deutscher Geist“. Propaganda Vignette auf einer Ganzsache aus Rheine (Westf.) 2 vom 21.9.35.
 ??  ?? Fotopostka­rte. Notiz auf der Rückseite: „Der Jude Benno Katz nebst Sohn am Tage des Boykotts. Gekauft für 30 Pf. am 24. Aug. 33 in Köln.“
Fotopostka­rte. Notiz auf der Rückseite: „Der Jude Benno Katz nebst Sohn am Tage des Boykotts. Gekauft für 30 Pf. am 24. Aug. 33 in Köln.“
 ??  ?? Brief der Protektora­tspost nach Rom mit rotem Retour Stempel im August 1943. Abbildunge­n aus dem Buch: Sammlung H. Wewer, Sammlung W. Haney, Archiv Lara Dämmig
Brief der Protektora­tspost nach Rom mit rotem Retour Stempel im August 1943. Abbildunge­n aus dem Buch: Sammlung H. Wewer, Sammlung W. Haney, Archiv Lara Dämmig

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